EIN HAUCH ZUCKERSTAUB

Marion Brecht und ihr Mann Jürgen betreiben seit über 30 Jahren einen Süßigkeitenladen. Aber wer denkt, hier spaziert man schnell rein, greift zu, bezahlt und geht wieder – der liegt komplett daneben. DAS MAGAZIN. März 2018.

„Haben Sie Kaffeebohnen mit Zuckerkruste? So ganz kleine?“ Die betagte Dame hat ziemlich konkrete Vorstellungen. Gestern hat sie ihren Kaufladen von 1948 wieder aufgebaut. Jetzt muss er befüllt werden. „Kleine Papiertüten bräuchte ich auch.“ Am Wochenende kommen die Enkel. Und die kennen das ja gar nicht mehr: Läden, in denen die Ware von Verkäufern in Tüten gepackt wird. Nur noch Supermarkt und Selbstbedienung.

In einem Kaufladen nach Kaufladenzubehör fragen, wie passend. Heidelberg – Stadt der Romantik, Stadt am Neckar, Barockbombast! Nur der Bahnhof ist eine zugige Nachkriegskatastrophe. Zum Glück fahren auf dem Vorplatz im Minutentakt die Straßenbahnen. Jetzt noch vier Haltestellen lang die Augen schließen, dann wieder auf – schon ist es da, das umwerfende Altstadtpanorama.

In die kleine Seitengasse mit dem lustigen Namen „Plöck“ verirren sich die Touristen trotzdem selten. Hier läuft man höchstens Gefahr, von vorbeiradelnden Studenten überfahren zu werden. In der Auslage sitzt eine Schaufensterpuppe auf einem vorsintflutlichen Zahnarztstuhl. „Zuckerladen“ steht an der Tür. Aber das trifft es nicht. Denn was sich hinter der alten Holztür verbirgt, ist eher eine Höhle. Das Tor in eine andere Dimension. Drinnen ist es dunkel. Und es duftet. Herb und süß, nach Lakritz.

Seit unglaublichen 32 Jahren verbringen Marion und Jürgen ihr Leben gemeinsam auf diesen paar Quadratmetern. In einem Süßigkeitengeschäft, wie es vermutlich kein zweites in Deutschland gibt. Er, der weißhaarige, strenge Zauberer, und sie, die zarte, dunkle Fee. Im Norden haben die beiden sich kennengelernt und sich dann, da war Marion schon schwanger, für ein Leben in Süddeutschland entschieden. Dass sie einen Laden aufmachen wollen, der anders ist, war immer klar.
Weil sie ja auch anders sind.

Das müssen sie gar nicht erläutern. Das sieht man schon an dem überbordenden Sammelsurium, das von den Ecken über die Wände hoch bis zur Decke gekrochen ist. Was soll das sein: Vintage-Style, Retro-Look, Flohmarkt-Lager? Marion lacht. Die Antwort ist viel einfacher. Hier hat sich vom Leben angeschwemmtes Gut angesammelt. Jedes Stück steckt voller Erinnerungen. Unter der Decke hängt ein hölzernes Ruderboot, das Jürgen mit Fußballschals dekoriert hat. Sportler aus dem Heidelberger Ruderclub haben es für ihn besorgt. Daneben vergilbt ein SPD-Plakat von 1994, auf dem Rudolf Scharping, Gerhard Schröder und Oskar Lafontaine siegessicher grinsen. „Stark.“ Ein absurd junger Helge Schneider hat ebenfalls ein paar Devotionalien beigesteuert.

„Kann ich eine Torte bestellen?“ Der junge Mann strahlt über beide Ohren. Dann erzählt er von Freunden in Leipzig, „total liebe Leute“, die sollen eine der berühmten Zuckerladen-Kreationen bekommen. Jürgens Torten sind ein Spektakel: Aus Keksplatten, Weingummi und Schaumzuckerware, neudeutsch Marshmellows, komponiert er riesige, quietschbunte Gestecke. Lieferung bis wann, fragt der Künstler hinterm Tresen. „Egal. Wie du es schaffst.“

In der Plöck 52 hat es niemand eilig. Höchstens, wenn der Heißhunger kommt. Eine Dreißigjährige wippt von einem Fuß auf den anderen. Zweimal gemischtes Weingummi zu je zehn Euro hat sie gerade bestellt, eine Portion zum Behalten, eine zum Verschenken. Die Vorfreude aufs Naschwerk lässt sie jauchzen. „Ich habe das so vermisst, ich war so lange nicht mehr bei euch!“ Auf Marions schwarzem Kleid liegt ein Hauch Zuckerstaub, während sie die dreieckigen Papiertüten bis zum Anschlag füllt.

Es gibt nichts, das es hier nicht gibt. Von klebrigen amerikanischen Erdnussschokokreationen bis zu salzigen schwedischen Salmiakpastillen, von zartschmelzenden französischen Trüffeln bis zu kleinen Kuchenkreationen aus Irland. Und dann ist da noch die Wand mit den offenen Gläsern. Dutzende Sorten Weingummi, süß, sauer, mit Brausekern, als grüne Bärchen oder in Form von rosa Brüsten. Eine junge Frau hat letztere gerade in großen Mengen mitgenommen. Für eine Freundin, der eine Brust-Operation bevorsteht. Da braucht es kalorienreichen Trost.

Guten-Tag-was-hätten-Sie-gern-danke-auf-Wiedersehen. Solche Sätze haben in der Plöck Hausverbot. „Es geht darum, sich als Mensch zu begegnen“, sagt Marion. Jeder darf seine Geschichte erzählen, für jeden nehmen sich die beiden Zeit. Nicht alle Kunden verstehen das Konzept. Es sind schon Touristengruppen im Gänsemarsch durch den engen Laden getrippelt, haben sich fragend umgeschaut. „Noch bevor sie mit uns ins Gespräch kommen durften, trieb die Reiseleitung sie wieder raus.“ Weiter, weiter, zur nächsten Sehenswürdigkeit.

Dafür bleiben andere umso länger. Nehmen eine Auszeit von Arbeits- oder Freizeitstress. Stehen ewig zwischen den hohen Regalen, stöbern hier, staunen da. Viele Studenten sind darunter. Und Großeltern mit ihren Enkeln. Stammkunden in der zweiten und dritten Generation. Für manche, die als Teenager ihr Taschengeld zum Zuckerladen trugen und die nun längst aus Heidelberg weggegangen sind, ist ein Besuch bei Marion und Jürgen süße Pflicht. „Wir sind ein Stück Heimat geworden“, sagt Marion. Werbung in eigener Sache machen die beiden nicht. Das übernehmen die Gäste. Die Sätze fangen immer gleich an: „Wenn du mal in Heidelberg bist, musst du unbedingt…“ Aus der ganzen Welt waren schon Menschen da, die auf Empfehlung ihrer Freunde kamen.

Dass dem Zuckerladen in Zeiten von Digitalisierung und Innenstadt-Verödung die Kundschaft nicht ausgeht, hat aber nicht nur mit Nostalgie zu tun. Im Gegenteil: Unter seiner vermeintlich altmodischen Oberfläche ist das Konzept des Ladens eigentlich hypermodern. Individuelle Beratung, keine Einheitsgrößen, keine unnötigen Plastikverpackungen. Die Ware, zumeist lose und auch in kleinsten Portionen erhältlich, wird in schlichten Papiertüten ausgegeben. Vegane saure Gummischlangen in sieben verschiedenen Farben: Auch das ist hier selbstverständlich.

Angestellte gibt es keine. Nur die beiden, die von früh bis spät mit Einräumen, Bestellen, Herrichten, Bedienen beschäftigt sind. Ein Arbeitstag von morgens um sieben bis nachts um elf ist normal. Grund zur Klage? Aber nein. Schon vor langer Zeit haben sie beschlossen, dass Expansion nicht in Frage kommt. Läden in ganz Baden-Württemberg eröffnen, die alle nach dem gleichen Muster funktionieren? Der Steuerberater empfahl das wärmstens. „Wir wollten das nie“, betont Marion. Einzigartigkeit lässt sich nicht ein Franchise-Konzept gießen. Wie soll das auch gehen? Steht dann überall ein Jürgen-Double an der Kasse? Undenkbar.

Denn egal, wie voll der Laden ist, das Bezahlen dauert. Minuten, Stunden. Weil Jürgen ja mit allen spielt. Ein abgegriffener Würfelbecher steht dafür bereit. Heute lautet die Aufgabe: Mit drei Würfeln über zehn kommen. Klappt nicht? Dann gibt es einen Joker-Wurf obendrauf. Am Ende, soviel ist sicher, gewinnt die Kundschaft immer. Auch wenn Jürgen dafür die Spielregeln ändern muss. Das tut er unbeirrt – und wird dabei richtig philosophisch. „Aufgrund der Freiheit, die ich habe, kann ich das entscheiden.“ Spricht‘s und teilt großzügig Gewinne aus: Lollis, Minzschokoladenplättchen, Gummibärchen. Selbst wenn der eigentliche Einkauf, wie bei dem jungen Pärchen, das seit fünfzehn Minuten geduldig in der Schlange steht, nur knapp einen Euro kostet. Der jüngste Kunde heute war drei und hatte ein Budget von 50 Cent. Auch er wurde bedient wie ein Fürst.

Die Rollen sind klar verteilt. Marion – die rechte Hand stets in einem eleganten weißen Stoffhandschuh – füllt in atemberaubender Geschwindigkeit die Tüten. Jürgen kassiert, scherzt, spielt. Poltert auch mal scherzhaft los. Trockener Humor gepaart reichlich Schalk, das ist sein Markenzeichen. Die Mischung versteht nicht jeder. Überfordert er neue Kunden manchmal? „Vielleicht“, antwortet Marion und lächelt sanft.

Dabei liegt es gar nicht an Jürgen, wenn die Menschen zusammenzucken und nicht so recht wissen, wie sie auf den Mann mit den Totenkopfring am Finger und dem wilden Haarschopf reagieren sollen. Es liegt an der Welt draußen und wie sie sich verändert hat. Die Menschen sind beim Einkaufen keine persönliche Ansprache mehr gewöhnt, keine Witze, keine Widerworte. Nur vorgestanzte Sätze von uniformierten Angestellten: „Haben Sie unser Wochenangebot schon gesehen?“ „Brauchen Sie für 20 Cent eine Tüte?“

Marion und Jürgen sind kommunikativ genauso aus der Zeit gefallen wie die Requisiten in ihrem Laden. Wer sich an dem bröseligen Styroporbaum (gerettetes Bühnenbildelement aus einer „Cyrano de Bergerac“-Inszenierung!) vorbeigezwängt hat, betritt einen Raum, der mit den Einzelhandelsdogmen des 21. Jahrhunderts nichts zu tun hat. Nichts zu tun haben will. Das Erstaunliche ist: Auch auf die Kunden färbt das ab. Sie sind auf einmal wie ausgewechselt. Haben Geduld. Vor allem aber – gute Laune.

Aber kann etwas wirklich funktionieren, das so komplett anachronistisch ist? Marion und Jürgen geben mehr, als sie einnehmen, arbeiten mehr, als sie ruhen. Verkaufen Zucker und verschenken Herzblut. Reich sind die beiden mit ihrem Laden in all den Jahren nicht geworden. Sie leben bescheiden, sagen sie. Kleine Wohnung, altes Auto, keine Urlaube. Trotzdem stehen hier zwei stolze, zufriedene Menschen inmitten ihres Lebenswerks. „So haben wir das immer gewollt.“ Die Tochter, die als Ungeborene mit nach Heidelberg kam, hat mittlerweile nebenan ein Yogastudio, der Schwiegersohn einen Tätowierladen. In der Plöck ist Familie. Zuhause.

Warum eigentlich ausgerechnet Zuckerzeug? Das werden sie oft gefragt, sagt Marion. Für sie liegt die Antwort auf der Hand. „Beim Süßen geht es um Genuss, um Freude.“ Das Süße ist nie praktisch oder vernünftig. Die Menschen brauchen es nicht und lieben es doch. „Im Süßen steckt eine Leichtigkeit.“ Am Wochenende wird sie zusammen mit ihrer Tochter das Schaufenster neu dekorieren. Sie werden herzförmige Luftballons aufblasen und Dutzende Post-its an die Scheibe kleben, die die Vorbeilaufenden beschreiben können. „Mal gucken, was passiert.“ Vor ein paar Wochen hatte ein Unbekannter einen „Liebe zum Mitnehmen“-Zettel an ihre Eingangstür geklebt, mit kleinen, perforierten Abreißstreifen. Morgens hingen die Streifen noch dran, abends waren sie alle weg.

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