EIN GOTT DER FRECHHEIT

Malende Autos, regnende Bäume, boxende Schachspieler – Iepe Rubingh macht Kunst am liebsten da, wo keiner mit ihr rechnet. DAS MAGAZIN. März 2012.

Berlin Mitte, Leipziger Straße, in einem alten Plattenbau. Im ersten Stock: eine Bürogemeinschaft, wie es sie zu Hunderten in der Hauptstadt gibt, Zustand abgefuckt lässig. An der Wand hängt ein Plakatentwurf für ein Parfüm, New Fragrance, New Masculinity, neuer Duft, neue Männlichkeit steht über dem Flakon. Auch der 37-Jährige, der hier am Schreibtisch sitzt, würde locker als einer der üblichen Was-mit-Medien-und-Internet-Typen durchgehen: gepflegter Bart, Designerbrille, enger Pullover mit V-Ausschnitt, und Accessoire iPhone darf natürlich auch nicht fehlen.

Der Schein trügt. Iepe Rubingh, geboren in Holland, seit 1997 in Berlin, ist Aktivist, Visionär, Erfinder und – seit er sich mit 500 Litern Farbe ins Gedächtnis Berlins eingeschrieben hat – einer der bekanntesten Street Art Performer Deutschlands. Wie es dazu kam, erzählt er jetzt zum ersten Mal öffentlich:

Es ist ein sonniger Tag, im April 2010, der Rosenthaler Platz in Mitte wie immer voll befahren. Um Punkt 13:30 Uhr positionieren sich an den vier Straßenmündungen der Kreuzung plötzlich Menschen mit umgebauten Fahrrädern, zwischen den Lenkern sind Farbkübel angebracht. Als die Ampeln auf Grün schalten, kippen die Fahrradfahrer den Inhalt der Bottiche vor sich auf die Straße. Die Autos, die hinter ihnen durch die Pfützen fahren, malen innerhalb von Sekunden dutzende Linien auf die Kreuzung. Gelb, blau, lila, rot, eine Sinfonie der Großstadt.

Seit Sommer 2011 ist das Video „Painting Reality“ auf YouTube zu sehen, knapp 400.000 Menschen haben es mittlerweile angeklickt. Was auf den ersten Blick nach Anarchie und Chaos aussieht, war in Wahrheit minutiös inszeniert. 60 Leute sind bei der Aktion im Einsatz, darunter zwölf Fahrradfahrer, zwölf Autofahrer, etliche Fotografen, Kameramänner, Produzenten und Assistenten. Wo „Wochenlang haben wir geprobt, Abläufe durchgesprochen, mit Farben und Pigmenten experimentiert“, erzählt Iepe. Das Team macht heimlich Rutschtests, sie kippen auch probeweise ein paar Eimer aus, um die Reaktionen der Autofahrer zu beobachten. Die Ampelphasen auf dem Platz misst Iepe mit der Stoppuhr, damit er weiß, wie viele Autos die Kreuzung pro Minute passieren.

Es ist, das merkt man, nicht seine erste illegale Intervention. 1999 legt der junge Holländer mit ein paar Freunden die Kreuzung am Hackeschen Markt lahm, blitzschnell spannen sie meterweise Absperrband kreuz und quer über die Straße. Damals ist die Zeit der großen Edelsanierungen und Dauerbaustellen; Künstler und Clubs werden aus Mitte verdrängt, stattdessen eröffnen Boutiquen. „Wir wollten keine neue Schuhgeschäfte“, sagt Iepe heute. „Wir wussten natürlich, dass wir den Lauf der Dinge nicht aufhalten können, aber wir wollten trotzdem unseren Standpunkt klarmachen.“

Ein wackeliges Video, mittlerweile ebenfalls auch YouTube, existiert von der Aktion, mehr Spuren hat die Miniblockade nicht hinterlassen. „Damals habe ich mich noch nicht getraut, begleitende Pressearbeit zu machen.“ Sein Bruder und er werden trotzdem vor Ort verhaftet, 500 D-Mark Strafe kostet der Streich. Beides ficht Iepe nicht weiter an. Er ärgert sich eher, dass die Sache so schnell verpufft ist. Beim nächsten Mal, schwört er sich, mach ich es richtig. Sprich: professioneller und mit dem Ziel, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen.

Die Möglichkeit ergibt sich schnell. Ein Jahr später, 2000, ist Iepe in Japan. Dort ist ziviler Ungehorsam kein Kavaliersdelikt. Der soziale Anpassungsdruck ist hoch, für Querschläger gibt es wenig Verständnis. Aber unter der glatten gesellschaftlichen Oberfläche brodelt es. „Da war eine Energie“, erinnert sich Iepe, „die raus wollte.“ Mit 60 begeisterten Mitstreitern macht er sich an die Vorbereitungen, wieder soll es Absperrband sein, aber diesmal wählen sie eine riesige Kreuzung aus, einen der Verkehrsknotenpunkt Tokios. Außerdem lässt Iepe alles filmen. Die Bänder spielen seine Helfer noch am selben Abend den großen japanischen TV-Stationen zu.

Die Rechnung geht auf: Medial schlägt die Aktion ein wie eine Bombe, japanische Abendnachrichten, internationale Presseagenturen, alle berichten über die Verrückten mit ihren 5000 Metern Absperrband. Iepe selbst, der während der Aktion als Narr verkleidet auf der Kreuzung herumturnt, geht für zehn Tage ins Gefängnis. „Aber das wusste ich vorher“, sagt er, „das hatte ich alles recherchiert.“

Auch zehn Jahre später in Berlin weiß er genau, was er tut. Nicht nur bei der Farbverschüttung, auch in Sachen Dokumentation, Distribution, Rezeption wird nichts dem Zufall überlassen. Vier Fotografen, fünf Kameramänner und einen Filmregisseur heuert Iepe für die Bemalung des Rosenthaler Platzes an. Und er lädt sogar ein Premierenpublikum ein, in den vierten Stock des angrenzenden Café St. Oberholz. Damit die Menschenmenge auf den Balkonen nicht auffällt, wird der Empfang wiederum als Fotoshooting getarnt. Außerdem bekommen die Gäste klare Auflagen bezüglich der Geheimhaltung: „Alle, die da waren, durften nicht bloggen oder twittern.“

Das tun dafür andere – im Erdgeschoss des St. Oberholz. „Die Leute im Café sind a a  alle sofort raus gerannt und haben fotografiert.“ Dem Verursacher im vierten Stock ist das mehr als recht. Er bleibt vorerst anonym, trotzdem berichten weltweit viele Street Art Blogs über die Aktion. Und auch erste Handymitschnitte tauchen bei YouTube auf.

Iepe selbst hält sich diesmal zunächst bedeckt. Ein halbes Jahr lang gibt er sich weder zu erkennen noch veröffentlichte er sein Bildmaterial. „Ich wollte ein bisschen abwarten“, sagt er, „ob es private Anzeigen geben würde oder sonstige juristische Folgen.“ Es gibt keine, in Berlin nehmen die Behörden die Sache offenbar gelassen. Was möglicherweise auch damit zu tun hat, dass Iepes Helfer unmittelbar vor der Aktion Zettel an die Laternenmasten geklebt haben. Dass dies eine Kunstaktion sei, die Farbe unbedenklich, wasserlöslich und biologisch abbaubar. „Ich bin vielleicht ein bisschen frech“, resümiert er heute, „aber ich habe ja nichts Böses gewollt.“

Tatsächlich wirkt die Mischung aus Provokation, Überraschung und Poesie, die in Iepes Kunst steckt, entwaffnend. Was ist schon ein kleiner Verkehrsstau, wenn man dafür spontan Teil eines gigantischen Straßengemäldes werden darf? Wo gab es schon jemals eine so schöne bunte Kreuzung? Mit seiner anmutigen Ästhetik schlägt der angemalte Rosenthaler Platz damit auch den Bogen zu einer anderen Arbeit von Iepe. Sie stammt aus dem Jahr 2002 und war ausnahmsweise mal ganz offizielle Kunst, mit Bauantrag und Fördergeldern: Ein Baum, aus dessen dichter Blätterkrone es regnet.

An die fragenden Gesichter der Passanten erinnert sich Iepe immer noch. Wie geht denn das, wie ist denn das gemacht? Zwei Monate lang stand das kleine Wunder auf dem Hackeschen Markt: Am Tag jauchzten die Kinder unter dem Baum, in der Nacht tanzten die Partytouristen. Iepe hat auch darüber einen Film gedreht, „den müsste ich aber eigentlich dringend nochmal neu schneiden“, sagt er, „der fürs Internet viel zu lang.“ Deshalb könne man die Wirkung nicht mehr richtig nachempfinden.

Mediale Nachbereitung und virale Verbreitung, auch diese Themen ziehen sich wie ein roter Faden durch Iepes Rubinghs Werk. Bei der Operation Rosenthaler Platz hat er seine Strategie nahezu perfektioniert: Mit etlichen Monaten Abstand, als der Platz längst wieder vom Regen sauber gewaschen ist, entsteht zusammen mit dem Filmregisseur AKIZ (Achim  Bornhak) der Film zu Farbverschüttung. Ein hochwertiger Videoclip, perfekt geschnittene Bilder, eigens komponierter Sound. Dass das Ganze gerade so lang ist wie ein Werbesport, ist volle Absicht. „Weil Kürze im Netz einfach wahnsinnig gut funktioniert“, sagt Iepe. „Die Leute gucken den Film dadurch immer gleich zwei- oder dreimal.“

Und er verdient damit endlich auch ein bisschen Geld. Denn mit der Aufmerksamkeit im Internet kommen weitere Verwertungsschleifen, einige davon durchaus lukrativ. Der Film wird zu Videofestivals eingeladen, aber auch ein Automobilhersteller meldet sich, will die Bildrechte für eine iPad-App kaufen. Eine Berliner Tageszeitung baut die Videosequenz sogar in einen Kinospot ein. Iepe  findet das alles gut und richtig. In Zukunft kann er sich sogar vorstellen, das Marketing- und Merchandisingkonzept bei ähnlichen Aktionen noch weiter auszufeilen. „Mit der Erfahrung, die ich jetzt habe, würde ich das Ding sofort auf YouTube stellen.“ Ohne vorgeschaltete Werbung, ohne Einschränkungen, was private Kopien angeht. Das Geld könne man dann, im Falle eines viralen Erfolgs, mit dem Verkauf von Postern oder Postkarten verdienen. So ähnlich wie es Christo und Jeanne-Claude im Vor-Internet-Zeitalter auch gemacht haben.

Draußen ist es dunkel geworden, nur der Verkehr auf der Leipziger rauscht immer noch unbeirrt. Wir haben die ganze Zeit über Straßen und Autos und Bäume gesprochen, aber noch gar nicht über die Parfümwerbung. Iepe lacht, dann deutet er auf ein Foto an der gegenüber liegenden Wand. Es zeigt einen Mann, der sich über ein Schachbrett beugt, seine Arme sind nackt und muskulös, auf der Stirn steht der Schweiß, ein Auge ist zugeschwollen. „So ein bisschen Street Art“, sagt Iepe, „das ist ja alles ganz schön.“ Aber eigentlich hat er schon wieder ganz andere Pläne. Nämlich: Dem Schachboxen zum weltweiten Durchbruch zu verhelfen.

Dem was bitte? „Schachboxen: das sind aus 6 mal 4 Minuten Schach und dazwischen 5 mal 3 Minuten Boxen.“ Die Sportart gab es bis vor acht Jahren nicht, dann hat Iepe sie, inspiriert von dem Comic „Froid Équateur“ von Enki Bilal, einfach erfunden. Eigentlich sollte auch das Kunst sein, soziale Skulptur à la Beuys, erklärt Iepe. Eine neue Form von Performance und Entertainment, ein  ganzheitlicher Kampf mit Kopf und Körper. Neue Männlichkeit eben.

„Das Ganze hat sich dann irgendwie verselbstständigt.“ Aus der Kunst ist Realität geworden und aus der sozialen Skulptur eine Vereinssportart. Mittlerweile gibt es weltweit rund 250 Schachboxer, in den letzten Jahren haben sich Clubs in Indien, Sibirien, London und L.A. gegründet. Der dazugehörige Verband organisiert jetzt mehrmals im Jahr Wettkämpfe, der Publikumsandrang ist groß, erste Sponsoren mit an Bord. Nachher, sagt Iepe dann noch zum Abschied, ist übrigens Training in der Gormannstraße, wie jeden Abend. Ob ich nicht mal kommen will. Zehn weibliche Mitglieder hat der Berliner Verein nämlich auch schon.

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