„VERBLÜFFEN SIE IHR KIND, INDEM SIE SICH KUNDIG MACHEN“

Flächendeckend will die Berliner Senatsverwaltung Medienkompetenzkurse für Eltern anbieten. BERLINER MORGENPOST und WELT. 24./25. Mai 2011.

Es ist ein sonniger Frühlingsabend, auf dem Gelände der Waldgrundschule in Charlottenburg zwitschern die Vögel. Eigentlich ideales Biergartenwetter, aber drinnen in der Schule sitzen zwanzig Eltern und besprechen Hausaufgaben. „Fragen Sie Ihr Kind, wozu es den Computer am liebsten nutzt?“, stand auf dem Zettel, den Dozent Frank Tripp den Eltern letzte Woche mitgegeben hatte. Jetzt lesen 18 Mütter und zwei Väter brav ihre Antworten vor: „Zum Spielen“ haben viele Kinder angegeben, aber auch die Stichworte Spaß, Spannung, Strategie sind oft gefallen. „Unser Kind nutzt das Internet zum Fernsehgucken“, sagt ein Vater, „er guckt auf YouTube seine Lieblingsserien.“ Das sei ihm bislang gar nicht so bewusst gewesen.

Frank Tripp nickt zufrieden. Der Diplompsychologe, der tagsüber als Sozialarbeiter an einer Sekundarschule in Spandau arbeitet, hat schon viele solcher Gespräche geführt. Häufig kommen Familien zu ihm, bei denen es zwischen Eltern und Kindern heftige Erziehungskonflikte gibt. „Meistens“, erzählt er, „haben sie mit der Mediennutzung der Jugendlichen zu tun hatten.“ Tripp fiel auf, dass dabei oft aneinander vorbeigeredet wird. „Ein Grund für die Konflikte ist das Unverständnis der Eltern.“ Viele Väter und Mütter haben gar keine konkrete Vorstellung davon, was die Kinder überhaupt so treiben an den Bildschirmen und Spielkonsolen.

Deshalb sitzen sie jetzt hier. Die Charlottenburger Eltern haben einen Platz in dem Pilotprojekt der Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung ergattert. An drei aufeinanderfolgenden Mittwochen erklärt ihnen Herr Tripp nun die Onlineangebote, die Kinder am liebsten nutzen: Soziale Netzwerke, Chats, interaktive Spiele usw. Der Kurs ist Teil des Berliner „eEducation Masterplans“, der seit 2005 in Kraft ist und über den unter anderem Lehrerfortbildung koordiniert oder IT-Anschaffungen für Schulen bezahlt werden. Bei der Förderung von Medienkompetenz auch die Eltern mit ins Boot zu holen, war dabei bislang nebensächlich. Erst der Skandal um eine anonyme Cybermobbingplattform, auf der viele Berliner Schüler aktiv waren, hat die Bemühungen um flächendeckende Elternkurse beschleunigt. Auf einmal ging alles ganz schnell – und unkompliziert.

Der 37-Jährige Tripp bekam den Auftrag, das Curriculum auszuarbeiten, nach Abschluss der Pilotphase soll der Psychologe dann weitere Dozenten schulen. Schon im ersten Halbjahr des nächsten Schuljahres will Oberschulrat Nicolai Neufert so Hunderten von Eltern die Teilnahmen an dem Kurs ermöglichen. Allerdings geht es nicht um eine technische Einführung, „oder darum, wie ich meinem Kind das Internet zeige“, erklärt Neufert. Der Ansatz ist eher kommunikationsorientiert: „Wie kann ich sicher sein, dass mein Kind, wenn es ein Problem hat, zu mir kommt?“ Das funktioniere nur, meint Neufert, „wenn das Kind seine Eltern als sachkundigen Gesprächspartner akzeptiert.“

Wie sie bessere Gesprächspartner werden können, lernen die Charlottenburger Eltern an diesem Abend am Beispiel von Computerspielen. Dozent Tripp erklärt die gängigsten Genres, den Unterschied zwischen Online- und Offlinespielen, er weist auf Alterskennzeichnungen hin, nennt Webseiten, auf denen man sich über Handlungen und Spielverläufe informieren kann. „Verblüffen Sie Ihr Kind, indem Sie sich kundig machen!“ Elterliche Ablehnung ist ok, so die Botschaft, aber bitte begründet und differenziert. Deshalb darf im Kurs auch alles gefragt werden, Fachwissen wird nicht vorausgesetzt. Das lockt selbst zurückhaltende Teilnehmer aus der Reserve. „Was ist überhaupt ein Egoshooter?“, fragt eine Mutter plötzlich dazwischen. Es sei die Spielperspektive, erklärt Tripp, man sieht das Spiel aus den Augen seiner Spielfigur, meistens ragt vorne rechts ein Unterarm mit einer Waffe ins Bild hinein.

Im Raum ist die Ablehnung deutlich spürbar. „Ich will nicht, dass meine Kinder sowas spielen“, sagt eine Mutter. „Sie werden es trotzdem machen, ob es uns gefällt oder nicht“, erwidert eine andere. Aber bevor sie weiterdiskutieren, bekommen die Eltern erst mal selbst eine Ladung Egoshooter verpasst: Tripp zeigt den Trailer des futuristischen Kriegsspiels „Crysis“, rasant geschnittene Aktion, permanente Schusswechsel, Kriegsszenarien, Riesenmonster. „Hektisch und anstrengend“, sagt eine Mutter, „das löst bei mir Stress aus.“

Einer der Väter wagt eine andere These: „Natürlich ist das indiskutabel, aber ich muss zugeben, ich kann die Sogwirkung nachvollziehen.“ Die Eltern kommen ins Gespräch, eine Mutter erzählt von den Räuber- und Gendarmenspielen ihrer Jugend, „da ging es auch richtig brutal zu.“ Eine andere erinnert sich an Bandenkriege auf dem Dorf: „Wir haben uns auch gegenseitig totgeschossen.“ Die Faszination, die von Kampf und Machtausübung ausgehen, scheint generationsübergreifend zu sein. Also vielleicht gar kein neues Phänomen, mutmaßen einige Eltern. „Aber was wollen Sie uns damit sagen“, fragt provozierend eine Mutter den Dozenten, „dass das alles gar nicht schlimm ist?“

Aus einem Kind, das gerne und viel Computer spielt, wird nicht automatisch ein einsamer Soziopath mit Hang zu aggressivem Verhalten, erklärt Tripp, „einfache Kausalbeziehungen gibt es nicht.“ Trotzdem geht es in dem Kurs nicht darum, die Eltern pauschal zu beruhigen oder aus der Verantwortung zu entlassen. Ausführlich erklärt der Psychologe, welche individuellen Faktoren die Suchtgefahr erhöhen können: Scheitern in der Schule, Ängste, wenige Freundschaften, schwierige Situation im Elternhaus.

Und natürlich sind auch viele Spiele so angelegt, dass man schwer aufhören kann. Tripp stellt mit „World of Warcraft“ ein besonders drastisches Beispiel vor. „Das Spiel hat kein Ende, es gibt eine unendliche Aufgabenvielfalt, eine gigantische virtuelle Welt.“ Dazu kommt die soziale Anerkennung durch die Mitspieler, die Erfolgserlebnisse, der persönliche Ehrgeiz. All das zieht die Spieler oft tief in den Phantasy-Kosmos hinein, verleitet dazu, immer mehr Zeit mit dem Spiel zu verbringen. „Ich dachte immer, interaktive Rollenspiele sind gut, weil sie so kreativ sind“, sagt eine Mutter verblüfft. „Aber das hier klingt eher anders.“

Tripp spricht sich trotzdem nicht für ein generelles Verbot im Kinderzimmer aus, überhaupt hält er sich mit klaren Ansagen sehr zurück. Wer in diesen Kurs kam, weil er einen ausgearbeiteten Zehn-Punkte-Plan für kindliche Mediennutzung erwartet hatte, samt altersgerechten Stundenkontingenten und einer Liste der erlaubten Webseiten, der wird enttäuscht. „Von starren Regeln zum Internet halte ich gar nichts“, erklärt der Psychologe. „Es gibt nicht den einen richtigen Weg.“ Die Eltern müssten sich ausgiebig informieren, aber auch ihren eigenen Erziehungsstandpunkt reflektieren. „Dann kann man versuchen, das wiederum dem Kind transparent zu machen.“ Vor allem aber, so Tripps Rat, sollte man miteinander im Gespräch bleiben – unvoreingenommen und offen. „Fragen Sie doch mal Ihr Kind, was es daran faszinierend findet.“

Draußen zwitschern noch immer die Vögel, drinnen sind die Eltern nach zwei intensiven Stunden erschöpft. Eine letzte Aufgabe mutet ihnen der Kursleiter trotzdem noch zu. Dazu teilt er bunte Zettel aus. „Darauf schreiben Sie, was Sie im Leben glücklich und zufrieden macht.“ Nach dem Einsammeln werden die Zettel nebeneinander auf ein großes Blatt geklebt. „Persönliche Firewall“ hat Tripp oben drüber geschrieben. Darunter entsteht nun eine Mauer aus Worten: „Familie“ steht da, „gute Freunde“, „Lachen“, „Sport“, „Schokoladentorte“. Und dann nochmal „Familie“.
Die Eltern schmunzeln, sie haben kapiert. „Das hier“, sagt der Psychologe, „ist Ihr persönlicher Schutzwall, er sorgt dafür, dass keine zerstörerischen Viren in Ihr System kommen.“ Wenn die Wand allerdings Löcher bekommt, weil es irgendwo gravierende Probleme gibt, zuhause, in der Schule, in der Beziehung, dann wird man anfällig. Auch für ungünstiges Mediennutzungsverhalten. „Und das ist nicht nur bei uns Erwachsenen so, sondern auch bei unseren Kindern.“

 

Medienkompetenzkurse für Eltern:

Der Medienkompetenzkurs für Eltern, den die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung initiiert hat, besteht aus drei Abendveranstaltungen, Dauer jeweils zwei Stunden. Maximal 20 Eltern können an einem Kurs teilnehmen. Vortrag, Gespräche und praktische Übungen wechseln sich ab, das Themenspektrum reicht von sozialen Netzwerken, Chatrooms, Datenschutz, Anonymität, Privatsphäre, Online- und Computerspielsucht bis zu typischen Erziehungskonflikten. Am letzten der drei Abende üben die Eltern ganz konkret, wie sie sich bei typischen Auseinandersetzungen mit ihren Kindern verhalten können.

Zurzeit laufen zwei Pilotkurse an der Charlottenburger Waldgrundschule, im August 2011 wird ein weiterer Pilotkurs an einer Oberschule folgen. Nach den Sommerferien werden mithilfe des Landeselternausschusses alle Berliner Elternvertreter über das Angebot informiert; interessierte Schulen können sich bei Oberschulrat Nicolai Neufert melden. Bereits ab Oktober 2011 sollen die Medienkompetenzkurse dann berlinweit an Grundschulen und weiterführenden Schulen stattfinden, je nach Nachfrage. Die veranstaltende Schule muss dazu lediglich einen Raum stellen, die Kosten für die Dozenten trägt die Bildungsverwaltung. Für die Eltern ist das Angebot umsonst.

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