SCHLÜSSELKINDER

Wenn Charléne und Ginette mittags nach Hause kommen, sind sie auf sich allein gestellt. Schlimm finden die beiden das nicht. BERLINER  MORGENPOST. 2. April 2011.

Es ist früher Abend in Berlin Mitte, Charléne und Ginette Hagedorn, die von allen nur Charly und Gini genannt werden, lümmeln entspannt auf der grünen Wohnzimmercouch herum. In der Küche rumort ihre Mutter, die heute ausnahmsweise früher zuhause ist. „Schlüsselkind“, sagt die 13-jährige Charly nachdenklich, „das hört sich komisch an.“ „Aber nicht schlimm“, findet die 10-jährige Gini, „eher, als wäre man was Besseres.“

Vater berufstätig, Mutter berufstätig, die Kinder mit Handy in der Tasche und Schlüssel um den Hals – nicht nur für die beiden blonden Schwestern ist das ganz normaler Alltag. 145.000 Kinder besuchen in Berlin eine Grundschule, rund 74.000 von ihnen nehmen an der Hortbetreuung teil. In vielen Elternhäusern reichen diese Betreuungszeiten trotzdem nicht aus. Denn über die Hälfte aller Berliner Mütter arbeitet, konstatiert der „Berliner Beirat für Familienfragen“ in seinem Familienbericht 2011.  Umgekehrt ist die Hausfrauenehe in der Hauptstadt statistisch gesehen ein Auslaufmodell.

Und noch eine Besonderheit zeichnet die Berliner Familien aus: Überdurchschnittlich viele Eltern leisten Abend- und Wochenendarbeit. Laut Familienbericht hängt das mit dem „großen Anteil an Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor“ zusammen. Mehr Nachmittags- und Ferienbetreuung tut da dringend not. Das findet auch Familienministerin Kristina Schröder, die vor einigen Wochen die Gewinner des Ideenwettbewerbs „Unterstützungsnetzwerke für Berufstätige mit Schulkindern“ gekürt hat. Je mehr flexible Kinderbetreuung, desto besser, meint die Ministerin: „Die Mütter könnten ihrem Arbeitswunsch nachkommen, die Kinder könnten von den Nachmittagsangeboten profitieren.“

Soweit die Kinder dazu Lust haben. Bei Gini, die Zeit ihres Lebens in Früh- und Späthorten gespielt hat, hält sich der Wunsch nach Fremdbetreuung mittlerweile in Grenzen. Zurzeit geht sie in die fünfte Klasse der Papageno-Grundschule in Mitte und könnte dort sogar nach Unterrichtsschluss noch bleiben. Die Schule bietet neuerdings für die älteren Schüler einen „Schülerclub“ an; die alte Hausmeisterwohnung wurde extra dafür umgestaltet. Gini will trotzdem nicht hin: „Ich find Hort ziemlich dumm. Da sagen die Erzieherinnen: Jetzt könnt ihr essen, jetzt könnt ihr spielen, jetzt müsst ihr Hausaufgaben machen. Zuhause kann man machen, was man will.“

Auch ihre große Schwester Charly, die das Friedrich-Engels-Gymnasium besucht, schwärmt von ihren selbstbestimmten Nachmittagen: „Ich mag es total, alleine nachhause zu gehen. Dann kann ich entscheiden, ob ich noch kurz zu einer Freundin mitgehe. Oder ich mach Hausaufgaben und verabrede mich danach noch.“

Abgesprochen mit Mama wird natürlich trotzdem alles. „Das Telefon ist total wichtig. Mindestens drei bis vier Mal rufen mich die Kinder jeden Tag an“, sagt Martina Hagedorn, die gerade mit einem Teller voller Brötchen dazu kommt. Die 42-Jährige ist Friseurmeisterin, arbeitet aber seit vielen Jahren nicht mehr aktiv in ihrem Beruf. Wie auch: „Von 10 bis 20 Uhr steht man als Friseur im Salon, und dann noch samstags.“ Mit kleinen Kindern war das unmöglich, Kita hin oder her. Seit 2003 bildet sie nun bei einem Bildungsträger in Lichtenberg Azubis aus.

An ihr Handy kann sie dabei nicht immer gehen, es liegt tagsüber meistens im Büro. Das führt dann auch schon mal zu kleinen Verwicklungen. Einmal hatte Charly ihren Schlüssel verloren und stand ratlos vor der Tür. „Mama konnte ich nicht erreichen, Papa war auch noch arbeiten“, erzählt sie. „Dann bin ich halt hier unten ins Restaurant gegangen.“ Die Familie wohnt in der Spandauer Vorstadt, vor der Haustür gibt es Dutzende Cafés. Charly hat sich ein Getränk bestellt, ein netter Kellner spendierte ein Mittagessen dazu.

Normalerweise versorgen sich die Mädchen weitgehend selbst. „Ich koche mir meistens Nudeln“, erklärt die Jüngere, „dazu brat ich Würstchen an und mach Ketchup rein. Das ist dann meine Soße.“ Die Ältere rollt mit den Augen, und betont, dass sie „schon richtig kochen kann“. Allerdings sind dabei in den letzten Jahren ein paar Pfannen, Gläser und Teller auf der Strecke geblieben. „Es brennt halt mal was an oder fällt was runter.“

Das Essen ist ein Thema, die medialen Verlockungen sind das andere. Die beiden kichern. „Meistens haben wir beim Hausaufgabenmachen im Hintergrund Musik an oder lassen den Fernseher laufen. Darf Mama aber nicht wissen“, flüstern sie schnell hinterher. Ihre schulischen Leistungen sind trotzdem gut. „Und wenn ich was nicht verstanden hab“, sagt Charly, „dann bespreche ich das eben abends mit Mama oder Papa.“

Seit die beiden größer und selbstständiger sind, ist vieles leichter geworden. Jetzt legt Martina ihren Töchtern auch mal einen Einkaufszettel hin oder vergibt kleinere Aufgaben im Haushalt. Früher musste sie die Kinder schon um 6:30 Uhr im Kindergarten abliefern, um rechtzeitig zur Arbeit zu kommen. Die Zeiten sind zum Glück vorbei. Seit einigen Jahren gehen Charly und Gini morgens alleine aus dem Haus, Martina weckt ihre Töchter noch, stellt die fertigen Brotbüchsen hin. „Auch wenn sie sich oft streiten“, sagt die Mutter, „es ist trotzdem gut, dass sie zu zweit sind.“

Wie schwer der morgendliche und abendliche Spagat ist, erlebt die Berufstätige dafür nun bei ihren Auszubildenden, etliche haben kleine Kinder, oft sind die Mütter alleinerziehend. „Stellenweise können die gar nicht bis 18 Uhr arbeiten, weil viele Kitas nur bis 17:30 Uhr geöffnet haben.“ Die Friseurmeisterin ärgert das: „Gerade im Handwerk reichen diese Öffnungszeiten nicht aus.“ Und was sie noch aufregt, sind die Studien- und Fortbildungstage, an denen die Schule komplett zumacht: „Warum kann man das nicht in die Ferien legen?“ Früher musste sie oder ihr Mann dafür Urlaubstage opfern.

Theoretisch geht das auch anders. Bei der Agentur „pme Familienservice“ hat man sich auf familiäre Ausnahmesituationen spezialisiert. Hier können Firmen für ihre Mitarbeiter Servicepakete und Zeitkontingente kaufen. Die Agentur, die deutschlandweit Niederlassungen hat, organisiert dann auf Anfrage alles von Notfallbabysittern bis Au-pair-Mädchen. Rund 600 Firmen deutschlandweit nutzen den Service. Meist zahlt der Arbeitgeber dabei die Beratungs- und Vermittlungsgebühr, die Stundenlöhne der Babysitter übernehmen die Arbeitnehmer selbst.

Ein etwas anderes Konzept hat der Notmütterdienst e.V. im Prenzlauer Berg. „Wir helfen vor allem, wenn die Mütter selbst krank sind“, erklärt Jutta Bartel. „Innerhalb von 24 Stunden können wir da in der Regel eine Notfallbetreuung organisieren.“ Vorher muss allerdings die Kostenübernahme mit der Krankenkasse geklärt werden. Wenn Eltern dagegen eine private Betreuung für ihre kranken Kinder suchen, müssen sie per Mail bestätigen, dass sie die Kosten selbst tragen.

Die Hagedorns haben solche Angebote noch nie wahrgenommen, schon weil die Haushaltskasse kaum Spielraum für Babysitter lässt. Stattdessen war meistens Oma der Notnagel, wenn mal wieder die Schule zu war oder eins der Mädchen hustend im Bett lag. Ganz typisch übrigens: Die aktuelle Studie „Aufwachsen in Deutschland“ des Deutschen Jugendinstituts hat kürzlich wieder bestätigt, dass die Großeltern – nach Eltern und Kindertageseinrichtungen – die „drittstärkste Betreuungsinstanz für Kleinkinder“ sind.

Doch auch zur Oma wollen Charly und Gini jetzt nur noch selten. Lieber bleiben sie ohne beaufsichtigende Erwachsene zuhause. Letzte Woche ist Charly sogar alleine zum Kinderarzt gegangen. Es ging nicht anders. Seit ihrem 12. Geburtstag haben ihre Eltern keinen gesetzlichen Anspruch mehr auf Kinderkrankschreibungstage. Martina Hagedorn findet das nicht richtig: „Die Kinder sind doch auch mit 12 noch klein. Warum setzt der Gesetzgeber dieses Alter nicht auf 14 hoch?“

Charly hat sich trotzdem nicht beklagt, dass sie ihre Grippe allein auskurieren musste. Wenn sie sich was wünschen könnte, was wäre das? „Ein Pferd“, sagt sie wie aus der Pistole geschossen, „und dass die Schule um 12 Uhr anfängt und um eins zu Ende ist.“ Schallendes Gelächter auf der Couch. Schwester Gini wird dann doch nochmal kurz ernst. „Ich fände es gut, wenn die Eltern mehr Gehalt kriegen“, sagt die Jüngere, „dann müssten sie nicht so unter Druck arbeiten. Oder noch Überstunden machen, um den Urlaub zu finanzieren.“

Martina Hagedorn nickt. Dass die vielen Stunden in Kita und Hort ihren Kindern geschadet haben, findet sie zwar nicht, „eher im Gegenteil“. Aber anstrengend war es trotzdem oft. „Und ich habe bis heute ein schlechtes Gewissen, wenn ich lange arbeite. Weil ich nicht zuhause bin und erlebe, was meine Kinder tun.“ Natürlich würde es helfen, wenn es noch mehr Betreuungsangebote gäbe. Aber wenn sie sich was wünschen könnte, dann eigentlich das: „Für Frauen mit Kindern gar keine 40-, sondern nur 30-Stunden-Wochen – bei gleichem Geld.“

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