ICH BLEIB DANN MAL HIER

Dank Google muss der Kulturfreund das Haus kaum noch verlassen. Ein virtueller Museumsbesuch. TAGESSPIEGEL. 17. Februar 2011.

Im ebenso großartigen wie halbvergessenen Werk des Schweizer Autors Robert Walser findet sich die Erzählung „Der Spaziergang“, 1917 zum ersten Mal publiziert. „Spazieren“, schreibt Walser da, „muss ich unbedingt, um mich zu beleben und um die Verbindung mit der lebendigen Welt aufrechtzuhalten […]. Ein Spaziergang ist immer voll sehenswerter und fühlenswerter bedeutender Erscheinungen. […] Zu Hause eingeschlossen, würde ich elendiglich verkommen und verdorren.“

Nicht nur den wunderlichen Walser zog es regelmäßig auf die Straße hinaus. Das 20. Jahrhundert ist bekannt für seinen unbedingten Fortbewegungsdrang. Das beginnt im flanierenden Paris der Jahrhundertwende, setzt sich fort in Zeppelin- und Orient-Express-Reisen. Es folgen die Autokolonnen gen Italien, Easyjet nach Madrid, Wochenendtrips nach New York. Der moderne Mensch will Weltluft schnuppern, und zwar so viel und so oft wie möglich.

Die Sache hat bekanntlich Haken. Wo alle hinwollen, ist es immer schon voll. Rom: unerträglich, Venedig sowieso. Dann der ganze Flug- und Autoverkehr – auch nicht gut. Und eigentlich hasst der Reisende auch das Drumherum: Staus, Hotelmatratzen, schlechtes Essen für teures Geld. Und das Wetter ist auch immer entweder zu heiß oder zu kalt. Mit der Städtereise verbindet den Massentourist seit Jahrzehnte eine ausgeprägte Hassliebe.

Zum Glück haben wir jetzt Google. Der Konzern verfolgt seit etlichen Jahren einen ebenso humanistischen wie umweltfreundlichen Plan: die Verdopplung der Welt im Netz. Zuerst waren die alten Bücher dran, zu Recht natürlich, denn muffige Leihbibliotheken gehören zu den grauenvollsten Bildungseinrichtungen der Neuzeit. Zettelkästen, Mikrofiche, Lesesäle, was hat man da seine Lebenszeit vergeudet.

Es folgte Google Street View, also das lückenlose Abfotografieren städtischer Architektur. Flanieren kann man seitdem mit Zeige- und Mittelfinger der rechten Hand: drücken, halten, Cursor im Bild rumschieben. So schwach die Street View Performance bei näherer Betrachtung noch ist – sie beschleunigt und bremst komisch und braucht viel Zeit für den klaren Blick –, so sehr verändert das digitale Spazieren trotzdem die Wahrnehmungsgewohnheiten: reinzoomen, rauszoomen, neue Adresse, nächste Stadt. Um 300 Prozent hatte die Nutzung von Google Maps, in das Street View eingebettet ist, in den Wochen nach der Veröffentlichung zugelegt, berichtet Google-Pressesprecherin Lena Wagner. Dann ließ die deutsche Neugier wieder nach. Ende März fahren die schwarzen Kameraautos übrigens schon wieder, die neuen Bilder werden allerdings nicht veröffentlicht, sie dienen nur dem internen Abgleich von Routen.

Eigentlich schade, denn vielerorts stören Busse, Baustellen oder Gegenlicht die Flanierfreuden. Und dass auf der Avenue Gustave Eiffel der Himmel blau und die Bäume grün sind, tröstet auch nur marginal darüber hinweg, dass der Street View-Eiffelturm extrem pupsig aussieht. Genauso wie der Kölner Dom oder die Golden Gate Bridge. Überhaupt gelingt es selten, das majestätisch Große ins kleine Eckige zu pressen. Beim Anblick überwältigt von der Wucht der Materie, dem Windhauch der Geschichte? Naja, eher nicht so.

Das ästhetische Scheitern an der Architektur muss den ein oder anderen Google-Mitarbeiter sehr gewurmt haben. Jedenfalls stellte Google vor zwei Wochen in London sein neustes Volkskulturprogramm vor, das Google Art Project (www.googleartproject.com), basierend ebenfalls auf der Kameratechnologie von Google Street View. Diesmal im Angebot: 17 Museumsrundgänge und 1.000 Nahaufnahmen von Einzelwerken.

Nach und nach werden mehr Werke und Innenräume dazukommen, erklärt die deutsche Pressesprecherin, Anfragen von interessierten Museen liegen bereits haufenweise vor. Schlendern kann man jetzt schon durch einige der berühmtesten Kunsttempel der Welt: das Van Gogh Museum in Amsterdam, das Schloss Versailles, das MoMA in New York, die Alte Nationalgalerie in Berlin, das Tate Britain in London. Und nein, ein dazugehöriges Geschäftsmodell gäbe es nicht. Genau wie Google Street View verbrennt auch das Google Art Project nur einen Haufen Geld. Lena Wagner erläutert das so: „Wir bringen erst das Produkt auf den Markt und gucken dann, was sich daraus entwickelt.“ Nicht mal um schnöden Imagegewinn gehe es, sondern um eine viel größere Idee: „Je interessanter wir das Netz machen, desto mehr Menschen nutzen es.“ Und wer es für die Kunst nutzt, der nutzt es vielleicht auch für den Konsum. Und freut sich dann über praktische Kleinanzeigen.

Aber das wird bei Google natürlich nur leise und langfristig erörtert. Kurzfristig sollen erst mal Klicks generiert, pardon: Menschen zur Schönheit gelockt werden. 10 Millionen neugierige Besucher zählten die 17 Googlemuseen in der ersten Februarwoche, 70.000 private Kollektionen wurden im gleichen Zeitraum angelegt. Denn die Suchmaschine bleibt sich natürlich auch auf dem Kunstmarkt treu: Wer ein Google-Account hat, kann die Verzeichnisse der Museen nach Stichworten durchsuchen und sich dann seine Lieblingsbilder zusammenstellen: einen Holbein aus Berlin, einen Rembrandt aus St. Petersburg, einen Hogarth aus London. Die eigene Sammlung darf der Nutzer anschließend kommentieren, in Ausschnitte zerlegen, bei Facebook ‚sharen‘. Oder er lässt sie als Diashow im Hintergrund laufen, während er mal wieder Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ liest.

Aber Benjamins Bedenken bezüglich Aura- und Echtheitsverlust sind natürlich überholtes Kulturpessimisten-Gedankengut. Für alle, die dennoch Restzweifel hegen, hat Google eine Zugabe parat, eine Handvoll Super-Scans sozusagen. Botticellis „Geburt der Venus“ ist eines davon, bei Google jetzt als 7-Milliarden-Pixel-Datei zugänglich. Man kann tatsächlich fast bis an die Farbpigmente ranzoomen – wer will da noch von realen Bildbegegnungen schwärmen?

Überhaupt hat der virtuelle Museumsbesuch immense Vorteile: Die Hallen sind immer menschenleer, nie stehen Schulklassen im Weg, es gibt keine Warteschlangen, keine Öffnungszeiten, kein „Ausverkauft“. Und wenn sich demnächst auch der Louvre zur Kooperation mit den verhassten Américains durchringen sollte, dann könnte man sogar endlich mal sehen, wie die Mona Lisa hinter ihrem zerkratzten Panzerglas wirklich aussieht.

Bleibt nur ein letzter Wermutstropfen: Der heimliche Hauptzweck jeder Bildungsreise besteht ja vor allem darin, sich selbst vor Weltkulturerbe in Szene zu setzen. Ohne Schnappschuss kein Daseinsbeweis. Oder, um es mit dem umständlichen Walter Benjamin zu sagen: „Die Dinge sich räumlich und menschlich ‚näherzubringen‘ ist ein genau so leidenschaftliches Anliegen der gegenwärtigen Massen wie es ihre Tendenz einer Überwindung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die Aufnahme von deren Reproduktion ist.“ Um wirklich zukunftsfähig zu werden, müsste Google also noch nachrüsten – und eine Ich-mit-Sehenswürdigkeit-Fotofunktion einfügen.

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