DREI TAGE KRIEG

Vor 20 Jahren fand in Berlin einer der größten Polizeieinsätze Deutschlands statt. Die Räumung der besetzten Mainzer Straße. Ein Rückblick. ZITTY. 4. November 2010.

Es ist ein schöner Frühling, damals, 1990. Die Grenzen sind offen, das Land im Umbruch, aus allen Ecken Deutschlands ziehen junge Menschen nach Berlin. Und weil im Westen der Stadt der Wohnraum immer noch knapp und teuer ist, lassen sie sich zu Tausenden in den leer stehenden Häusern oder Wohnungen im Osten nieder. Viele Anwohner und Hausverwaltungen haben dagegen nichts einzuwenden – lieber ein paar unkonventionelle neue Nachbarn als weiter fortschreitender Verfall.

Im Sommer sind im Friedrichshain, im Prenzlauer Berg und in Mitte schon rund 130 Häuser und unzählige Einzelwohnungen besetzt, es entwickelt sich eine rege Infrastruktur. Neue Wohn- und Lebensmodelle werden ausprobiert, Partys gefeiert, Läden gegründet. Aber es kommt auch vermehrt zu Übergriffen von Neonazis, vor allem in der Mainzer Straße, wo insgesamt 12 von 28 Häusern besetzt sind. Die Besetzer verbarrikadieren sich dagegen, rüsten auf.

Über den Herbst verhärten sich die Fronten. Mittlerweile fordert eine Bürgerinitiative lautstark die Räumung der Mainzer Straße, man ist verärgert über „Lärm, Schmutz und Rücksichtslosigkeit“. Nicht nur im Bezirk Friedrichshain wächst dadurch der politische Druck, weitere Besetzungen sollen nun nicht mehr geduldet werden. Am Montag, den 12. November, kommt es nach der Räumung von drei neubesetzten Häusern in der Pfarr- und Cotheniusstraße zur Eskalation (siehe Kasten). Zwei Tage und Nächte lang liefern sich Polizei und Besetzer rund um die Mainzer Straße erbitterte Straßenschlachten, die Zeitungen damals sprechen von „bürgerkriegsähnlichen Zuständen“.

Am Mittwoch, den 14. November, ist alles vorbei, die Häuser in der Mainzer sind wieder leer. Aber aus dem Kampf geht niemand als Sieger hervor. Die Rot-Grüne Koalition zerbricht nur zwei Tage später, einige Ost-Bürgerrechtler, die verzweifelt zu schlichten versucht hatten, ziehen sich desillusioniert zurück. Auch viele der jungen Bewohner sind schockiert und ratlos. „Diese riesige Front an Wasserwerfern“, erzählt Katrin Rothe, damals Kunststudentin aus Gera, „das war viel größer und mächtiger, als ich es `89 bei den Demonstrationen erlebt hatte. Für uns Ostler war das der Polizeistaat, der sich da präsentiert hat.“ Zurück bleibt bei vielen ein Gefühl der Ohnmacht. Und der Verbitterung – weil alle Vermittlungsversuche gescheitert sind.

Auch Katrin Rothe lassen die Eindrücke nicht los. Schon in ihrem ersten Spielfilm „Die Ex bin ich“ (ZDF, 2009) siedelt sie die Geschichte um einen Selbstmörder und seine drei Ex-Freundinnen in der Berliner Hausbesetzerszene an. Für die Arbeit am Drehbuch hat sie viele Gespräche geführt, Freunde und Bekannte zu ihren damaligen Träumen und Wünschen befragt. „Da wurde mir klar, wie präsent das Thema Mainzer Straße immer noch ist. Selbst bei denen, die gar nicht unmittelbar von der Räumung betroffen waren.“

Im März dieses Jahres beginnt Rothe mit einer neuen Filmrecherche, diesmal soll es ein Dokumentarfilm werden. Sieben Zeitzeugen von damals lassen sich von ihr vor die Kamera locken, darunter Schriftsteller Ahne, Fotograf Harald Hauswald, Oswaldt Buss vom Friedrichshainer Veranstaltungskollektiv „Supamolly“ und die mittlerweile verstorbene Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley. Es ist ein eindrucksvoller Interviewfilm geworden; behutsam und kommentarlos hat Rothe die Perspektiven und Anekdoten ihrer Gesprächspartner ineinander verwoben. Der Film feiert am 7. November im Moviemento Premiere, danach erscheint er als DVD bei Good Movies.

Die Filmpremiere ist nur eine von mehreren Veranstaltungen, die sich mit dem Jahrestag der Räumung beschäftigen. In der Theaterkappelle lesen am 12. November Katrin Girgensohn und Alfons Kujat aus literarisch-autobiografischen Texten. In Girgensohns Roman „Der Mond, die Spree, das Bier“ verschlägt es die junge Hauptfigur Laura eher zufällig in der Mainzer Straße 10. Launig beschreibt die Autorin den chaotischen WG-Alltag, der vor allem aus öden Plenumssitzungen und anstrengenden Liebesaffären besteht. Für Mietverträge und Stadtpolitik interessiert sich die Studentin Laura dagegen eher weniger. Umso mehr wird sie eines Tages von der Räumung überrascht. Girgensohn erzählt das Ereignis aber nicht nur als privates Vertreibungstrauma, sondern auch als politisches Erweckungserlebnis. Das Leben der Protagonistin nimmt dadurch einige entscheidende Wendungen.

Ebenfalls ab dem 12. November ist in der Galiläakirche Kirche, die sonst das Jugend[widerstands]museum beherbergt, für zwei Wochen eine Sonderausstellung zu sehen; gezeigt werden Originalfotos und Haustransparente aus der Mainzer Straße 1990.

Zum Dialog zwischen den damaligen Gegnern wird es dagegen auch 2010 nicht kommen. Dirk Moldt, Historiker und Mitarbeiter beim Jugend[widerstands]museum, bedauert das sehr. Er hätte zum Jahrestag gerne eine politische Diskussion organisiert, „aber es gibt viele Betroffene, die sich bis heute nicht miteinander an einen Tisch setzen“. Warum die Auseinandersetzung selbst nach zwanzig Jahren so schwierig ist, erklärt Moldt damit, dass die Räumung für alle Seiten eine Niederlage war: „Friedrichshain wirbt heute mit seinem Kreativpotential, genau das ist aber 1990 durch die Räumung erst mal für einige Jahre vertrieben worden.“ Von offizieller Seite gäbe es daher, so der Historiker, kein Interesse an einer Aufarbeitung, „denn dann man müsste sich ja auch zu den eigenen Fehlern verhalten.“

Katrin Rothe hat bei ihrer Filmrecherche ähnliche Erfahrungen gemacht, viele angefragte Interviewpartner haben erst zu- und dann doch wieder abgesagt. Sie sieht die Gründe eher im Privaten: „Das Thema wühlt die Leute bis heute sehr auf.“ Umso wichtiger sei es, dass sich die Zivilgesellschaft nachträglich „mit den Gründen für solche Gewalteskalationen auseinandersetzt“. Schließlich habe die Räumung nicht nur 12 Häuser und vielleicht 200 Besetzer betroffen. „Die Hausbesetzer – das waren nicht ein paar wenige, das war eine ganze Jugendbewegung.“

Die nächsten zwei Teile ihres Dokumentarfilms, ein archivarischer und ein investigativer Teil, sind  jedenfalls schon geplant. Aber noch hat Grimme-Preisträgerin Rothe keinen Sender und keine Produktionsfirma gefunden, die die Umsetzung finanzieren. „Dabei würde es Berlin guttun, das Kapitel Mainzer Straße endlich aufzuarbeiten.“

Comments are closed.