MIT VOLLER WUCHT

Wenn man jung ist, glaubt man noch glühend an die Kunst. Mit der Zeit verblasst das allerdings. Zwischenbilanz einer einst Theatersüchtigen. DAS MAGAZIN. Mai 2010.

Angefangen hat es vor siebzehn Jahren. Damals: Meine Eltern lesen die WAZ, meine Uni ist bekannt für ihre Selbstmordrate, meine erste Wohnung liegt hinterm Bergbaumuseum. Es ist die Zeit, in der ich Simone de Beauvoir anbete und den Son of a Preacherman und meinen Banknachbarn Ralph im Linguistik-Grundkurs. Ich bezeichne mich selbst als »unangepasst«, meine Hobbys sind »lesen und tanzen«. Wenn ich alleine bin, halte ich innere Monologe, sie handeln von Wutohnmachtsehnsuchtundverzweiflung, es kommen viele Ausrufezeichen darin vor.

Ich bin 20 Jahre alt, unter Beziehungen verstehe ich das gegenseitige Vorlesen aus Lieblingsbüchern. Musik mag ich nur, wenn sie laut ist. Furnierholzmöbel beklebe ich mit Philosophenzitaten.

Und wenn es Abend wird, dann gehe ich ins Theater.

Jeden Monat kommt der Spielplan per Post, jeden Monat klebe ich ihn mit Tesafilm an die Wand neben meinen leeren Kühlschrank. Auf dem weißen Leporello steht schwarzer Text, am unteren Rand prangt ein rot durchgestrichenes Atomkraftwerk. Heute würde man Corporate Identity dazu sagen, damals war das nicht graphisch gemeint, sondern politisch.

Ich lese aufmerksam, kreuze an, was ich noch nicht gesehen habe. Mein System ist einfach: Ich gucke alles, unbeirrbar. Was sollte mich auch beirren? Ich kenne Heiner Müller nicht und auch nicht Botho Strauß. Epochen  interessieren mich so wenig wie Genres, Stile kann ich weder erkennen noch benennen. Juckt es mich, dass die FAZ jenen und die SZ diesen Regisseur für talentiert hält? Dass Schriftsteller am liebsten wörtlich vom Blatt gespielt werden wollen, Schauspieler am liebsten vorne an der Rampe stehen? Weiß ich, dass Spielpläne von grübelnden Dramaturgen im Hinblick auf Autorenproporz und Ensemblekapazitäten durchgeplant werden? Dass es internationale Theaterprominenz gibt, teure A- und nebensächliche B-Produktionen? Dass das Geheimnis erfolgreicher Bühnen darin besteht, die Kritiker genauso zu bauchpinseln wie die Abonnenten?

Nein.

Ich habe keine Kulturkenntnisse, ich habe Weltschmerz. Deshalb bin ich hier.

Karges Off-Theater in zugigen Industriebrachen kann ich nicht leiden, dieses spröde Getue in schwarzen Anzügen ist nicht mein Ding. Ich stehe auf groß, größer, Kulturtempel. Und auf dich, o du mein Stadttheater an der Königsallee, mit deiner champagnerfarbenen Anmut, deinem dezenten Bürgertumsprunk. Alles an dir ist so vertraut: die gläsernen Schautafeln draußen auf dem Platz, in der hellen Eingangshalle die Kassenhäuschen und darin die immer gleichen brünetten Kassendamen. Die protzigen Lüster im Foyer, die geschwungenen Handläufe der Treppenaufgänge. Ich kenne die Flecken deiner Auslegeware, ich kenne den hellen Cord deiner Zuschauersitze, ich kenne die dunkle Vertäfelung entlang deines Bühnenportals.

Hier drinnen ist Heimat. Tief rutsche ich in meinen Sitz, die Knie an die Lehne des Vordermanns geklemmt, in die embryonalste aller Zuschauerhaltungen. Gleich geht der Vorhang auf. Und aus der Tiefe der Hinterbühne wird ein kalter Luftzug herein wehen. Der Geruch von Theater. Ich bin süchtig danach.

Dass Intendanten zum Frühstück Auslastungszahlen lesen, erfahre ich erst Jahre später. Ich freue mich nur, wenn es am Abend mal wieder leer ist. Wenn ich fast alleine bin. Dann sitze ich mit meinen Studententicket in der ersten Reihe, den Kopf im Nacken, die Beine bis fast an die Bühne gestreckt.

Leider ist es nicht immer leer, manchmal sogar voll. Und leider geht das Licht im Zuschauerraum nicht immer aus. Wir haben immerhin Nach-Zadek-Zeit. Die vierte Wand ist aus der Mode gekommen. Aber davon weiß ich natürlich noch nichts. Ich weiß nur: Ich mag den großen Samtenen und ich mag auch die ehrfurchtgebietende Dunkelheit. Mein Rezeptionsverständnis ist ohnehin eher konservativ: Wir hier im Finstern, die da im Licht. Die reden, wir schauen zu. Deshalb hört endlich auf zu rascheln und zu husten, ihr ignoranten Idioten auf den teuren Plätzen.

Im Theater verstehe ich keinen Spaß, hier wird schließlich Kunst gemacht. Hallo: KUNST! Meine Hochachtung ist ziemlich grenzenlos. Meine Neugier auch. Kanon oder Tanztheater, Uraufführungen oder Klassiker sind keine Kategorien, nach denen ich vorsortiere. Ich nehme, was kommt – Worte, Musik, Stimmungen – und suche nach Eingängen.

Meine Methode heißt Identifikation. Ich schlage Kerben in Inszenierungen, lasse Sätze in meine Seelenlandschaft plumpsen.  Da ist die große tiefe Bühne, hier ist das kleine flache Ich. Es ist froh um jeden Bedeutungsfetzen, den es erhaschen kann.

Was nicht heißt, dass ich den Theaterabend als intertextuellen Entschlüsselungswettbewerb verstehe. Im Gegenteil. Ich will nicht interpretieren. Eigentlich will ich mich nicht mal darüber unterhalten. Ich suche den Moment der sinnlichen Überwältigung, der liebenden Vereinigung, des beglückten Ineinanderaufgehens. (Her mit dem abgedroschenen Beziehungsvokabular, es passt alles.)

Wenn der Moment mich erfasst, dann mit voller Wucht. Dann kann ich die aufgerissenen Augen nicht abwenden von Wedekinds »Musik«, dann ertrage ich kaum die melancholische Mattheit von Eustaches »La maman et la putain«, dann könnte ich weinen über Schillers säbelrasselnder Kabale.

Aber selbst wenn ich nichts begreife, ist das kein Grund, sich zu ärgern. »Denn ein für alle Male ists Orpheus, wenn es singt«: keine Ahnung, worum es ging. Jean Genets »Sie«: nix kapiert. Becketts »Endspiel«: noch weniger. Macht nichts, morgen ist wieder ein neuer Theatertag.

Meine Verzückung ist nicht leicht zu erschüttern. Eine oder zwei oder auch drei langweilige Inszenierungen stellen sie kein bisschen in Frage. Auch weil ich hochgradig demütig bin. Bestimmt war es gut, ich habe nur nicht gesehen wie und wo genau. Ähnlich unvoreingenommen nehme ich jedweden Regieeinfall hin: spritzende Nutella-Kacke, wirre Vidoeeinspielungen, archaische Hirschgeweihtänze oder wackelnde Maskenköpfe – aha, interessant.

Heimlich schwärme ich natürlich auch. Zum Beispiel für weibliche Unterschenkel. Die Schauspielerinnen haben fast alle so eine bestimmte Sorte Beine:  ins Kräftige neigend, muskulös, an den Fesseln sehnig. Das sind ja Kunstleistungssportlerinnen! Soviel Stärke, nur mühsam gezähmt von viel zu hohen Schuhen! (Und wenn die Damen nicht hochhakig stelzen, dann natürlich barfuß. Aber das wird mir erst in den kommenden Jahren vermehrt auffallen. Auch, dass die Frauentypen sich oft ähneln: depressives Zwitschern, somnambules Schmachten, opheliaeskes Verlöschen… aber halt, anderes Thema.)

Die Beine sind das eine. Der Mann, der glühend verehrte, das andere. Meiner heißt Martin Feifel, ein brauner Lockenkopf, jung, Hauptrollendarsteller. Wo er ist, da bin ich auch. Er ist mein Hamlet und mein Frühlingserwachen. Wegen ihm lese ich die mikroskopischen Unterzeilen in den Spielplanankündigungen, ihn spähe ich aus jeder Ensembleszene heraus. Heute sehe ich ihn noch manchmal im Tatort, als bösen Bauern. Oder im ZDF, als Arzt, dem Frau Makatsch vertraut.

Wir sind beide ziemlich ZDF geworden, vielleicht ist das das Problem. Damals war das anders, da war alles extraordinär und existenziell. Er, der sanfte Tragöde, ich, die stumme Seelenverwandte, und zwischen uns nur diese paar Bretter. (Was nicht heißt soll, dass ich ihn jemals angesprochen habe. Wie auch? Undenkbar.)

Aber kommt Zeit, kommt Schneid. Bald gehe ich, wie alle, auch nur noch zu den Premieren, also den Partys. Ich lese jetzt Perlentaucher, verfolge Intendantenkarrieren, schlafe mit »Kulturschaffenden«. Ich kenne – natürlich! – Heiner Müller und Botho Strauß. Und ja, es wurmt mich, wenn die FAZ jenen und die SZ diesen Regisseur für untalentiert hält.

Warum erlischt Liebe? Man weiß es nicht. War es die fortschreitende Langeweile, die mit der Systematisierung und Professionalisierung einherging? Habe ich zu viele Schauspieler taxiert, zu viele Kostüme verglichen, zu viele Textfassungen im Programmheft mitgelesen? Sind die wirren Vidoeeinspielungen schuld? Oder das Heer der Halbbegabten, das ich auf einmal überall auszumachen meinte?

Fakt ist: Es wird nicht leichter, wenn man den Anderen in- und auswendig kennt. Die Geduld lässt nach. Die Genervtheit steigt. Schon wieder dieser Tonfall, schon wieder jene Standardgeste. Oh nee, Leute, und nicht schon wieder leere Bühne. Als ob wir nicht wüssten, dass diese hässliche Kiste, die ach so ehrliche Haut, nur der Einfallslosigkeit eures Gastdesigners geschuldet ist. (Der wahrscheinlich sowieso nur zur Bauprobe angereist ist. Aber dafür ein x-stelliges Honorar kassiert hat, womit er sich jetzt sein y-tes Haus in der Toskana kauft.)

Dass die Geschichten hinter den Kulissen die interessanteren, weil allgemeinmenschlicheren sind, macht die Sache zwischen uns nicht einfacher. Zumal, wenn man als verklemmter Idealist am liebsten nur Kunst akzeptieren möchte, die aus fair verhandelten Produktionsbedingungen hervorgegangen ist.

Warum also erlischt Liebe? Sicher nicht, weil der Andere an allem schuld ist. Die Zeit spielt eine Rolle, auch die Selbstwahrnehmung. Mit ü-30 mag ich plötzlich keine weißberockten Luises und Lulus mehr herum irrlichtern sehen. Ich will von Theaterangestellten auch nichts über Tod und Sterben erzählt kriegen. Schon gar nicht, wenn sie dabei im Spotlight ihrer Monolog-Mikros stehen. Und wenn Wasser, Sand, Federn, Teig, Seifenschaum oder Schweinekadaver aus dem Schnürboden rieseln, krieg ich im Zuschauerraum beleidigten Burnout.

Ende, heute: Lesen tue ich immer noch ab und zu, tanzen nur noch selten. Unter Beziehungen verstehe ich, dass auch mal der andere nachts zum Wickeln aufsteht. Meine inneren Monologe münden in to-do-Listen, auf meinen Möbeln kleben Wachsmalwiesen. An Institutionen glaube ich so wenig wie an Wunder.

Und an die Kunst? Höchstens als ein Feuer, das im Herzen brennt.

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