„UMARMT DAS INTERNET“

Wenn es ums Internet geht, wird einer immer gefragt, zitiert, gezeigt – Sascha Lobo. Ein Gespräch über die Chancen und Risiken von digitaler Selbstentblößung, anonymer Meinungsfreiheit und farbigen Frisuren. DAS MAGAZIN. Februar 2010.

Sie sind einer der erfolgreichsten digitalen Freiberufler – werden aber von Teilen der Netzcommunity auch ziemlich missgünstig beäugt. Vor ein paar Wochen standen vier wütende junge Männer sogar nachts vor Ihrer Haustür. Was wollten die?

Das waren ein paar „Trolle“, also Leute, die anonym im Internet herum pöbeln. Die treffen sich in einem Forum regelmäßig und haben schon häufiger versucht, mir Streiche zu spielen. Sie haben zum Beispiel Warenproben in meinem Namen bestellt oder mich in sehr seltsame Newsletter eingetragen.

Wie haben Sie auf den Besuch reagiert?

Als sie nach einer Viertelstunde noch nicht verschwunden waren, bin ich runtergegangen, habe sie in ein unsinniges Gespräch verwickelt und sie dann fotografiert. Anschließend habe ich die ganze Geschichte auf meinem Blog ins Netz gestellt, samt der Fotos.

Sieht so bürgerliche Gegenwehr im digitalen Zeitalter aus?

Nein, auf keinen Fall. Ich bin in einer Mischung aus Selbstüberschätzung und Selbstvertrauen runtergegangen, ich kann mich ganz gut wehren. Aber die Typen hätten ja auch zum Beispiel ein Messer haben können, wer kann das schon vorher sagen?

Woher wussten die „Trolle“ überhaupt, wo Sie wohnen?

Da in Deutschland Impressumspflicht für professionelle Internetangebote herrscht, steht meine Adresse im Netz. Meine Handynummer übrigens auch.

Was man auf Ihrer Website noch sehen kann: wo Sie gerade sind. Dank einem Programm namens „Google Latitude“, das jederzeit Ihren aktuellen Aufenthaltsort anzeigt. Wieso macht man sowas freiwillig?

Ich arbeite viel für Unternehmen, denen ich sage, was im Internet so los ist. Und es ist für mich wichtig, bei neuen Entwicklungen selbst auszuprobieren, wie das funktioniert.

Werden sich solche Dienste wirklich durchsetzen? Die meisten Menschen haben doch überhaupt kein Interesse daran, verortet zu werden. Nicht solange es eifersüchtige Freunde oder spitzelnde Arbeitgeber gibt. Das ist doch höchstens was für Kinder und Haustiere.

Da liegen Sie falsch. Ich glaube, dass es bald völlig normal ist, dass wir immer sehen können, wo unsere Freunde sind.

Es bleibt eine Form von freiwilliger Überwachung.

Nein! Es könnte weiter entfernt davon nicht sein. Diese Menschen hier (er zeigt auf das Display, auf dem seine Freunde in einem Stadtplan als Foto-Icons zu erkennen sind), die machen es ja nicht öffentlich. Die sagen ganz explizit, dem teile ich meine Position mit, dem teile ich nur die Stadt mit und  dem nächsten teile ich gar nichts mit. Das kann ich alles einstellen. Und es hat den Effekt, dass man eine geografische Darstellung seines Freundeskreises bekommt. Das ist die nächste Stufe nach dem Onlinestellen von Fotos. Da haben auch viele Leute gesagt, seid ihr wahnsinnig, wie könnt ihr nur private Fotos online stellen? Jetzt machen es alle.

Natürlich machen das viele Menschen. Sie selbst übrigens nicht. Sie stellen keine Privatfotos ins Netz, Sie twittern nicht den Hintern Ihrer Freundin.

Nein. Ich kontrolliere präzise, was ich von mir veröffentliche und was nicht.

Sie haben zig Profile auf allen möglichen Plattformen, betonen oft, dass Sie Soziale Netzwerke wie Facebook oder myspace für eine der wichtigsten Entwicklungen der Zukunft halten. Trotzdem sind Sie selber…

Meine mediale Persönlichkeit ist Teil davon. Meine private Persönlichkeit nur in eingeschränkten Bereichen.

Das widerspricht sich doch.

Nein. Jeder sollte kontrollieren, was von ihm selbst in die Öffentlichkeit kommt. Das ist unsere Aufgabe in Zukunft: Veröffentliche alles, was du willst. Aber eben nur das. Und nicht den Rest noch mit. Ich möchte zum Beispiel nicht, dass ein Foto meines Vaters im Internet ist.

Warum nicht?

Das war eher als Beispiel gemeint, es gibt keinen besonderen Grund.

Ich dachte, die »Generation Internet« verspürt gar keinen Wunsch mehr nach Privatsphäre.

Es gibt Freunde von mir, die „Post-Privacy“ (das Ende bzw. die Überwindung der Privatheit, A.d.R.)  predigen. Das finde ich totalen Quatsch. Das Private, die Intimsphäre ist mir extrem wichtig. Sie fragen, warum ich meinen Standort veröffentliche? Der ist sowieso öffentlich. Die Leute erkennen mich aus 80 Meter Entfernung und twittern dreimal am Tag: Ey, gerade habe ich ihn da laufen sehen. Dann kann ich das auch selbst machen.

Auch Plattformen wie Facebook tun alles dafür, die Daten ihrer Mitglieder so öffentlich wie möglich zu machen. Zum Beispiel, indem sie die Voreinstellung für Neuanmeldungen entsprechend einstellen.

Finde ich auch richtig. Es ist ja der Sinn eines Social Networks, dass man, wenn man ihm beitritt, eine öffentliche soziale Darstellung von sich selber plant. Wenn du rein gehst und privat sein möchtest, dann ist es dir zuzumuten, dass du dich verdammt nochmal damit beschäftigst, welchen Klick du setzt.

Nach dem Motto: Der Nutzer ist mündig?

Der erwachsene Nutzer hat gefälligst mündig zu sein. Ich gehe doch auch nicht einen Verein, wo ich dann danach feststelle, huch, was haben die denn für komische Ziele? Entweder ich informiere mich vorher oder ich lass den Quatsch bleiben.

Aber ganz im Ernst: Wer liest schon AGBs?

Aber man könnte. Die Möglichkeiten, sich eine Meinung zu bilden, sind im Internet vorhanden. Das ist überhaupt der wichtigste Vorteil gegenüber anderen Medien: die Mündigkeit des einzelnen Konsumenten. Ohne Mündigkeit ist jedes Medium gleich scheiße. Mit ist das Internet weit überlegen.

Das würde aber voraussetzen, dass man sich immer aus möglichst vielen Quellen informiert. Und alles, was einem online begegnet, extrem kritisch hinterfragt.

Willkommen in der Realität.

Der Impuls ist meistens ein anderer. Ich lese im Internet irgend etwas, finde es spontan blöd – und schreibe erst mal einen abfälligen Kommentar dazu.

Das ist definitiv eine der Schattenseiten einer anonymen Öffentlichkeit. Ich glaube übrigens – das kann ich allerdings nur schwer belegen –, dass das ein deutsches Phänomen ist. Das Trollen gibt es in allen Sprachen. Aber dieses Missgünstige, das absichtlich Böse, das ist in Deutschland stärker verbreitet. Wenn man sich einen typischen amerikanischen Kommentar-Thread durchliest, dann sind oft achtzig Prozent der Kommentare positiv, bestätigend, freundlich. In Deutschland kommen zwei gute Kommentare und dann kommt: Also, ich glaub nicht, dass das stimmt. Dann kommt einer, der vermutet: Haste Werbevertrag mit denen, oder was? Dieser leicht meckernde Unterton ist zwar nicht das Hauptproblem, aber die Gehässigkeit schaukelt sich auf.

Auf vielen Webseiten wird deshalb die Kommentarfunktion nachts abgeschaltet. Andere plädieren für die Abschaffung der Anonymität.

Das wäre fatal. Der Punkt ist: Du kannst auf die Straße gehen ohne Nummernschild auf dem Kopf. Diese Form der öffentlichen Anonymität, die muss auch im Internet gewahrt bleiben. Ich glaube, dass das Recht öffentlich anonym zu kommunizieren, die Demokratie extrem stärkt und erhält. Und wie fragil das ist, können wir in Ägypten sehen, im Iran, in China.

Dass die freie anonyme Meinungsäußerung in Diktaturen ein wichtiger Fortschritt ist, ist klar. Aber in Deutschland ist es ja nicht so.

Doch. Da gibt es auch in Deutschland hunderte Beispiele. Und das eine Mal, wo etwas Substanzielles und Wichtiges veröffentlicht wird, überwiegt die 99 Mal, wo im Schutz der Anonymität ein Siebzehnjähriger sagt, du bist doof.

Sie verteidigen die anonyme Meinungsäußerung vehement, obwohl Sie im letzten Jahr selbst massiv zur Zielscheibe geworden sind.

Seit ich öffentlich in den Medien auftrete, bin ich Zielschiebe.

Aber 2009 hat es zugenommen.

Sie spielen wahrscheinlich auf Vodafone an.

Auf den Vodafone-Werbespot und Ihr Engagement im SPD-Online-Beirat.

Die drei großen Punkte waren: SPD, Vodafone und das Internet-Manifest.

Und was war der Vorwurf?

Das muss man differenzieren. Substanzielle Kritik, die vielleicht in fünf Prozent der Fälle geäußert wurde, gab es vor allem bei Vodafone. Weil meine Handlung da auch am ehesten kritisierbar war. Auf der einen Seite gegen Netzsperren zu sein – und auf der anderen Seite mit einer Mobilfunkfirma zu arbeiten, die diese Netzsperren mit unterstützt hat. Das ist ein Widerspruch, mit dem ich leben muss.

Aber das war nur ein kleiner Teil der Kommentare. Der Rest …

Hat einfach nur gepöbelt, ja. Damals im Sommer war ich eben die Sau, die durchs Dorf getrieben wurde. Da durfte jeder mal raufpöbeln. Da gab es auch Mob-Effekte.

In Ihrem Blog haben Sie geschrieben, Sie betrachten solche verbalen Angriffe »belustigt« und mit »forscherischer Neugier«. Ist das Fell wirklich so dick?

Inzwischen ja. Der wichtigste Trick, damit umzugehen: Man muss sich vergegenwärtigen, dass auf der anderen Seite ein junger Mensch sitzt, meistens Mann, vielleicht 22 Jahre alt, und der schreibt etwas im Überschwang seiner momentanen Gefühle. Da kann man sich richtig vorstellen, wie der vor dem Rechner sitzt und Empörung quillt aus seiner Nase. Wie wenn man auf der Straße langgeht, und ein paar Fünfzehnjährige rufen: Ey, du hast ja `ne bescheuerte Hose an.

Jetzt verniedlichen Sie.

Ich sage, wie ich damit zurechtkomme. Im Internet wird das übrigens »Shitstorm« genannt. Ich stand schon oft im Shitstorm und kann damit ziemlich gut umgehen. Aber wenn man das erste Mal darin steht, dann brennt die Luft: Es kommen im Minutentakt Mails und Kommentare auf deinem Blog. Und es rufen Leute an. Es ist wie ein Prasseln. Alle Viertelstunde gibt es einen neuen Blogbeitrag mit 250 Kommentaren. Und  neunzig Prozent davon sagen: Arggrgrgrg. (Lobo gestikuliert wild und grummelt wirres, böses Zeug.)

Wir lachen jetzt darüber, dabei ist die Dynamik ziemlich furchteinflößend. Wäre die normalste Reaktion nicht zu sagen: Das muss ich mir nicht antun, das lasse ich mir nicht gefallen?

Politiker mussten sich das schon immer gefallen lassen – auf eine Art und Weise, die alles andere als fair ist. Und zwar in den traditionellen Medien. Da wird – nicht erst seit dem Internet – in den tiefsten Jauchegruben gegraben. Insofern ist dieses Shitstorm-Phänomen keins, was nur aufs Internet bezogen ist. Nur gibt es jetzt mehr Leute, die sich dem stellen müssen. Früher gab es die 15 Minuten Ruhm, heute gibt es die 15 Minuten Shitstorm.

Sprich, wer sich öffentlich exponiert, muss das eben aushalten?

Man muss sich vorstellen, dass im Internet eigentlich das veröffentlicht wird, was seit 100 Jahren in der Teeküche erzählt wurde. Und das war noch nie nett. Dazu kommt der Aufschaukeleffekt. Stell dir vor, in der Teeküche stehen dreitausend Leute.

Aber im Gegensatz zum Lästern in der Teeküche hat das Lästern im Netz Bestand. Man kann es immer wieder googlen. Beschneidet das nicht die Selbstbestimmung des Einzelnen, der auch mal Dinge hinter sich lassen möchte?

Ja, beschneidet es. Punkt. Das ist ein Teil der gesellschaftlichen Weiterentwicklung durch das Netz, die zu einem ganz großen Teil positiv ist, aber nicht nur. Trotzdem halte ich das digitale Archiv für einen zivilisatorischen Fortschritt. Ein Wissensspeicher, der so zugänglich ist wie das Internet, kann das schönste Instrument der Bildung sein. Ich betone: kann.

Das klingt nicht, als hätten die Shitstorms eine fundamentale Medienkrise bei Ihnen ausgelöst.

Das hört sich jetzt ganz pathetisch an, aber ich glaube wirklich, dass mit dem Netz und der Technologie drum herum eine Chance besteht die Gesellschaft besser zu machen.

Ich lache nicht.

Doch, Sie lachen. Da wird man immer ausgelacht, wenn man als aufgeklärter und intelligenter Mensch denkt, ich möchte die Welt besser machen. Das Internet kann dazu ein Mittel sein. Und zwar ein besseres als irgendein anderes davor.

Denken wir uns doch mal zehn Jahre weiter: Werden die meisten Menschen das Netz nicht vor allem zur Unterhaltung und zum Einkaufen nutzen? Und nur ein kleiner Teil wirklich die Möglichkeiten der Bildung und Politisierung ausschöpfen, von denen Sie schwärmen?

Es gibt viele Anzeichen und auch Studien, die zeigen, je einfacher es ist, ein Teil zu etwas Gutem beizutragen, desto mehr Leute machen es. Wenn du zur Post gehen musst, um eine Spende zu überweisen, dann ist das kompliziert, aufwändig und nervig – und dann macht das keine Sau. Wenn es aber ein Klick ist, einen Euro zu spenden, für etwas Gutes, dann machen das Hunderttausende. Wenn sie den Grund dafür einsehen. Und das ist Kommunikation.

Womit wir wieder bei Ihnen wären. Für 2010 ist also keine Änderungen der Strategie oder Frisur zu erwarten?

Im Gegenteil. Meine Frisur habe ich natürlich aus Gründen der Wiedererkennbarkeit oder Markenbildung oder PR oder wie man das nennen will. Aber auch, weil sie mir gefällt. Ich mag es auch ganz gerne angestarrt zu werden. Ich fühle mich damit wohl.

Und Sie haben keine Angst, das Image als Vorzeige-Digital-Bohème könnte irgendwann kippen?

Es gibt schon ein bisschen eine Übersättigung in manchen Bereichen, einerseits. Auf der anderen Seite ist das auch ein Problem der digitalen Mikroöffentlichkeiten. Die Leute in meinem Umfeld haben die Schnauze total voll davon, dass ich dauernd überall auftauche. In der breiteren Öffentlichkeit, bei Menschen, die das Internet mal so ein bisschen wahrnehmen, wenn überhaupt, ist das anders. Denen kann man gar nicht oft genug sagen: Leute, umarmt das Internet. Versucht, da mal ranzugehen. Öffnet euch den digitalen Welten.

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