DEMO FÜR ALLE

S21, Flugrouten, Atomenergie – die bürgerliche Mitte zieht es auf die Straße. Die radikale Linke schwankt zwischen Mitmachen und Abgrenzen. ZITTY. 2. Dezember 2010.

Deutschland hält sich an den Händen: in Stuttgart, im Wendland, im Süden Berlins. Es ist die Zeit der großen Unterschriftensammlungen und der großen Konsenskundgebungen. Die politische Orientierung all dieser Empörten reicht von Mitte-Rechts bis außen Links. Bringt die neue Lust am Protest zusammen, was nicht zusammen gehörte?

Tim Laumeyer, Mitglied der „Antifaschistische Linke Berlin“, trinkt in einem Friedrichshainer Café einen Pfefferminztee und findet die fröhliche Eintracht an der Protestbasis gar nicht schlimm. Zu den Castor-Blockaden hatte die Antifa mit aufgerufen, damals bei „Mediaspree versenken“ war sie auch aktiv dabei, und beim Berliner Wassertisch hat man immerhin Unterschriftenlisten ausgelegt. Nur Flugrouten und S21 sind keine Kernthemen der Gruppe – „aber nicht, weil wir‘s langweilig oder schlecht finden“, ergänzt der Student und verweist auf die begrenzten personellen und finanziellen Kapazitäten: „Man kann leider nicht überall mitmischen.“

Die Zeit der scharfen Abgrenzungen scheint vorbei. Das zeigt sich nicht nur an der wieder erstarkten Anti-AKW-Bewegung. Auch bei der „Freiheit statt Angst“-Demonstration gegen Vorratsdatenspeicherung und Netzsperren liefen im September in Berlin viele radikal linke Gruppen  Seit’ an Seit’ mit der FDP. Berührungsängste? Kaum. Ein Erbe aus der Anti-Globalisierungsbewegung des letzten Jahrzehnts sei das, meint Laumeyer, „damals gab es auch riesige Bündnisse und es sind Leute miteinander ins Bett gestiegen, die sich das vorher nicht hätten träumen lassen.“ Also im übertragenen Sinne. „Der Pragmatismus“, sagt der 33-Jährige, „hat seitdem zugenommen.“ Heute orientiert sich ein Großteil der Linken eher an konkreten Sachfragen als an langfristigen Gesellschaftsutopien.

Bei der Berliner „Gruppe Soziale Kämpfe“ (GSK) sieht man das ähnlich. Die Gruppe versteht sich als „Teil einer pluralen Linken“, die sich für eine „revolutionäre Realpolitik“ einsetzt und dazu bewusst Allianzen eingeht.  Dass man dabei, wie beim großen „Megaspree“-Bündnis, auch mit der Hedonistischen Internationalen oder der Fuckparade kooperiert, findet GSK-Mitglied Christina Kaindl nicht problematisch. „Einziges No go sind rechte Gruppen.“ Ansonsten geht es vor allem darum, bei jedem Thema die eigene Lesart einzubringen: „Wenn die FDP zu einer Demo aufrufen würde, bei der es um Sicherheitspolitik und Bürgerrechte geht, dann müssten wir zeigen, wo die FDP an der Untergrabung des Sicherheitsgefühls der Menschen beteiligt ist – und diese Politik kritisieren.“

Können derart feine inhaltliche Abgrenzungen innerhalb großer Bündnisse überhaupt kommuniziert werden? Nein, lautet der Tenor bei der Zeitschrift „Konkret“. In der Novemberausgabe kritisierte Ralf Schröder die „affirmative Beschränktheit“, mit der in der Öffentlichkeit zurzeit Lobbyistenschelte betrieben werde. Und Herausgeber Hermann L. Gremliza zieht ausgiebig über die Demonstrationen in Stuttgart her – und unterstellt einer Mehrheit der Teilnehmer sogar eine rechte Gesinnung: „Meine von der Erfahrung Blässe angekränkelte Ansicht geht dahin, dass achtzig oder siebzig Prozent, mindestens aber eine absolute Mehrheit der Stuttgarter Demonstranten zu den Sympathisanten jenes Rassenkundlers gehören dürften, der in diesen Wochen die Wahrheit über Deutschland 21 ans Licht getrieben hat.“ Immanent logisch erscheint es Gremliza denn auch, dass gegen die volksverhetzenden Thesen eines Thilo Sarrazin kein Mensch auf die Straße geht, wohl aber „zugunsten von Parkbäumen und Juchtenkäfern“. Fazit: Es gibt keine richtige Demo in der falschen.

Ganz so einfach teilt sich für Steffen Kühne die Welt nicht in guten und schlechten politischen Aktionismus. Der 29-Jährige ist Mitglied der Linksjugend [’solid], einem Verband, der der Partei DIE LINKE angeschlossen ist. Die neue Demonstrierlust der Deutschen, sagt er, „markiert einen gesellschaftlichen Fortschritt.“ Auch wenn die Motive mancher Demonstranten vielleicht weniger politischer, sondern mehr lokalpatriotischer Natur sind. „Viele sind ja gar nicht grundsätzlich gegen die Regierung oder den Staat, aber sie wehren sich gegen unsaubere Vorgänge und Filz.“ Wer dagegen auf die Straße geht, meint Kühne, macht lautstark deutlich: So nicht.

Auch für Antifa-Mann Laumeyer ist der Akt der Selbstermächtigung wichtiger als alle theoretischen Bündnisbedenken: „Wenn man Dinge verändern will, muss das in Form von Bewegungen stattfinden.“ Weder die Diskussionen in Internetforen noch auf dem Papier, meint Laumeyer,  ersetzen die realen Auseinandersetzungen. „Wenn alle bei Facebook gegen Castor sind, aber keine Sau nach Gorleben fährt, beeindruckt das niemanden.“ Gar nicht mitmachen ist für ihn daher keine Option. „Wir wollen unsere Energie nicht darauf verschwenden, Bündnispartner wegzubeißen oder bestehende Bündnisse zu spalten, das ist uns zu doof. Zumal das ja eher dem Klischee des Sektierertums Vorschub leisten würde.“ Lieber gemeinsam stark als einsam in der Schmollecke.

Denn der Kampf um Sichtbarkeit und Themensetzung ist in den letzten Jahren nicht einfacher geworden. Die Mediengesellschaft liebt die Hysterie und den momentanen Aufreger, aber sie hat ein kurzes Gedächtnis. Und wo kein Potenzial zu dramatischer Zuspitzung, da keine Wut. Sparpaket, Gesundheitsreform, Elterngeldkürzungen, Integrationsprogramme, Kinderbetreuung, worum ging‘s da jetzt nochmal im Detail?

Natürlich hätte Steffen Kühne lieber einen heißen Herbst in Sachen Sozialer Frage gesehen. Es ist anders gekommen. Mit linken Themen wie Eigentumsverhältnissen oder Umverteilung lockt man zurzeit kaum jemanden auf die Straße. Dabei gibt sich das explizit linke Bündnis „Wir zahlen nicht für eure Krise“ redlich Mühe. Sowohl die Antifa als auch [’solid] und GSK gehören dem Bündnis an, das sich 2008 in Berlin gegründet hat. Über 30 Gruppen arbeiten hier zusammen; mit dabei sind neben Parteien und Gewerkschaften auch Attac, die Föderation Demokratischer Arbeitervereine sowie viele kleine antikapitalistische und antifaschistische Gruppen.

„Für eine solidarische Gesellschaft“ lautet eine der Kernbotschaften des Bündnisses, dahinter reihen sich viele Neins. Nein zur Rente mit 67, zum Atomdeal, zu den Hartz-IV-Reformen, zu Kürzungen im Bildungssektor und so weiter. Hinweisen will man auch auf die komplexen Zusammenhänge zwischen einzelnen Themenfeldern, erklärt Christina Kaindl, zum Beispiel, „wie antimuslimischer Rassismus als Ethnisierung sozialer Probleme“ funktioniert.

Ein wenig neidisch schielt das Bündnis nach Griechenland und Frankreich, wo der Abbau des Sozialstaates Hunderttausende auf die Straße treibt. In Deutschland ist es dagegen mühsam, zu abstrakter Systemkritik wie der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich große Massenaufläufe zu organisieren. Und meistens sinkt die Zahl der Teilnehmer sogar proportional zur Länge des Forderungskatalogs. Die Deutschen protestieren lieber punktuell und monothematisch.

Am vergangenen Freitag hatte das Bündnis deshalb unter dem Schlachtruf „Sparpaket stoppen“ zur Belagerung des Bundestags aufgerufen, man hoffte auf 5.000 Teilnehmer –  aber dann machte die Terrorwarnung den Veranstaltern einen Strich durch die Rechnung. Und das ist nicht das einzige Problem. „Die, die am meisten vom Sparpaket betroffen sind“, sagt Kühne, „kriegt man kaum mobilisiert.“ Am unteren Ende der Gesellschaft hält sich der Drang nach Protest in Grenzen: „Diese Menschen haben sich zum Großteil aus der politischen Auseinandersetzung komplett verabschiedet, haben resigniert.“ Kühne findet das tragisch. Denn zum Demonstrieren gehört immer zweierlei: Hoffnung auf Veränderung und Vertrauen in die eigene Stärke. Beides muss man erst mal haben.

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