WENN SPRECHCHÖRE RE-TWEETEN
Wie groß ist der Einfluss des Social Web auf die Organisation von Straßenprotesten? Fundamental, sagen amerikanische Intellektuelle. Überschaubar, meinen deutsche Aktivisten. ZEIT ONLINE. 11. November 2011.
Levi Asher war überwältigt. Als der New Yorker Autor Ende September durch die Straßen seiner Heimatstadt lief, konnte er zunächst die angekündigte Generalversammlung von Occupy Wall Street nicht finden. Ein bisschen ratlos stand er herum. Plötzlich erklang neben ihm der Ruf „Mic Check!“, Mikrofon-Check. Eine einzelne Stimme, der bald andere antworteten. „Mic Check! – Mic Check!“ Innerhalb kürzester Zeit blieben hunderte Menschen stehen, stimmten in den Chor ein. Die Versammlung konnte beginnen.
Flash Mob könnte man eine solche spontane Gruppenbildung nennen, man assoziiert das Phänomen normalerweise mit Facebook, Twitter usw. In New York dagegen wurde das so genannte „Human Mic“ ausgerechnet aus dem medialen Mangel geboren. Weil die Behörden den Demonstranten untersagt hatten, Megafone zu benutzen, funktionierten sich die Menschen kurzerhand selbst in Echoräume um. Die Sätze der Sprecher wurden erst von der unmittelbaren Umgebung wiederholt, dann repetierte die weiter entfernte Menge. Bei Zustimmung zum Gesagten erhoben sich die Hände, bei Ablehnung wurden die Armen zu einem X gekreuzt. Auf diese Weise gaben die Demonstranten nicht nur Informationen weiter, sondern stimmten ganze Programme: Forderung, Echo, Handzeichen, Moderation, modifizierte Forderung, wieder Echo, wieder Handzeichen. Eine „langsame, aber kraftvolle Methode“ sei das, schreibt Asher auf seinem Blog Literary Kicks.
Das umständliche Prozederehat auch andere amerikanische Intellektuelle tief beeindruckt – „weil es so deutlich den Wunsch der Bewegung nach horizontaler Demokratie spiegelt.“ Das sagt Nicholas Mirzoeff, Professor für Medien und Kommunikation von der New York University und ebenfalls ein Augenzeuge. Den Abstimmungsmodus, bei dem jeder einzelne Teilnehmer ein Vetorecht hat, findet er geradezu revolutionär: „Im Gegensatz zu anderen politischen Treffen, bei dem die Reaktion der Zuhörenden auf Applaus begrenzt ist, können durch das ‚menschliche Mikrofon‘ und die Handzeichen alle Anwesenden in den Prozess der Konsensbildung einbezogen werden.“
Die amerikanische Occupy Bewegung orientiert sich damit deutlich an der Vision einer hierarchiefreien Basisdemokratie, wie man sie in Deutschland zurzeit eher im Zusammenhang mit Software wie Liquid Feedback oder Adhocracy diskutiert: Wortführer sind unerwünscht, selbst Arbeitsgruppen stellen ihre Ergebnisse nur vor, um dann wieder in die zweite Reihe zurückzutreten. „Es gibt keine Delegationen, es gibt keine Repräsentanten“, erklärt der Kommunikationswissenschaftler. Stattdessen herrsche eine Kultur des individuellen Vorstoßes – wie im Web 2.0. Dort seien die User längst gewohnt, selbstbestimmt Ideen, Bilder, Texte, Filme zu posten.
Insgesamt, so Mirzoeff, könne der Einfluss des Internets auf die Strukturen der amerikanischen Protestbewegung daher gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Empörten bloggen auf tumblr, sie twittern, sie verabreden sich bei Facebook, vor allem aber nutzen sie Google: Google Documents, Gmail und Google Groups. Für den Medienwissenschaftler ist das genau so wenig ein Zufall wie Besetzung des Zuccotti Parks. Denn der Platz wurde nur deshalb nicht von der New Yorker Polizei geräumt, weil er zwar öffentlich zugänglich, aber in Privatbesitz ist. Ausgerechnet private Firmen, schlussfolgerte Mirzoeff kürzlich in einem Beitrag für die Onlineausgabe des Kulturmagazins Critical Inquiry, stellten den Bürgern erst Räume zur Verfügung, in denen politisches Engagement möglich ist.
Mit der Situation in Deutschland lässt sich kaum vergleichen. Öffentliche Großdemonstrationen als Ausdruck politischer Unzufriedenheit sind seit Jahrzehnten gesellschaftlich fest verankert, genauso wie die dazugehörigen Organisationsstrukturen und -vorgänge. „Natürlich nutzen wir die sozialen Medien“, sagt Max Bank, einer der Sprecher von Attac Deutschland, „vor allem im Vorfeld, bei der Mobilisierung.“ Trotzdem, so der 29-Jährige, „spielen direkte Kontakte immer noch die größte Rolle.“ Vor jeder Demonstration gibt es reale Vorbereitungstreffen, während der Aktion selbst wird dann hauptsächlich telefoniert. Attac erstellt dafür Telefonlisten, es gibt Ansprechpartner, Zuständigkeiten, man kennt sich. Gerade in heiklen Situationen sei dieses persönliche Vertrauen enorm wichtig, sagt Bank. „Entsprechend kann ich dann nämlich auch mit Informationen verfahren, die ich über SMS oder Twitter oder sonst woher bekommen.“ Ein Hashtag allein macht noch keine glaubwürdige Quelle.
Während der ein oder andere Journalist schon die nächste iPhone App – ein twitter-ähnlicher Service namens Vibe – als neues Lieblingsvernetzungsinstrument der Demonstranten ausgemacht haben will, ruht die deutsche Protestkultur ganz offensichtlich auf anderen Säulen. Es sind: Telefonate, Mailinglisten, private Zusammenkünfte. „Von Vibe habe ich noch nie gehört – und Twitter halte ich übrigens auch für total überschätzt“, sagt Michael Prütz, Sprecher des Bündnisses „Wir zahlen nicht für eure Krise“, unter dessen Dach rund 30 linke Gruppen vernetzt sind. Selbst über Facebook sind in Deutschland bei weitem nicht alle politisch Interessierten zu erreichen. „Höchstens die Hälfte der Aktivisten, die ich kenne, ist bei Facebook.“ Das wiederum, betont Prütz, sei keineswegs eine Frage des Alters. Auch viele Jüngere machen einen Bogen um das soziale Netzwerk – durchaus aus politischen Gründen.
Dass Smartphones, Facebook und Co. die Dynamik des Protestierens verändert haben, bestreitet trotzdem niemand. „Wir sind in den letzten Jahren vielleicht nicht professioneller geworden“, sagt Attac-Sprecher Bank, „aber wir sind schneller geworden.“ Noch während einer Demonstration können jetzt über die diversen digitalen Kanäle weitere Unterstützer mobilisiert werden. Auch der Kontakt zur Presse ist einfacher geworden, weil sich Bilder und Informationen in Echtzeit übermittelt lassen. „Und natürlich verfolgen wir auch permanent die aktuelle Berichterstattung“, ergänzt Prütz. Schließlich geht es nicht nur um die Sichtbarkeit auf der Straße, es geht auch um die anschließende mediale Deutung.
Bei den Sprechchören von Occupy Wall Street ging es dagegen vor allem ums Gefühl. „Wie ein Gedicht“, schwärmt Nicholas Mirzoeff, hätten die von der Menschenmenge langsam wiederholten Forderungen der berühmten Philosophin Judith Butler bei ihrem Auftritt in New York gewirkt. „Ein wunderschöner Effekt“, fand auch Levi Asher, fast wie „ein Chor in einer griechischen Tragödie“.
„Die Amerikaner waren da schon immer anders“, kommentiert Prütz lakonisch. „Die haben auch 1968 immerzu gesungen.“ In Deutschland mag man es lieber ein Spur nüchterner. „Wer will, kann natürlich Sprechchöre bilden“, meint Max Bank, als Reminiszenz an die globale Bewegung findet er das Ritual in Ordnung. Abgesehen davon gibt es am Samstag, bei der geplanten Umzingelung des Regierungsviertels in Berlin und des Bankenviertels in Frankfurt aber auch offizielle Bühnen – und richtige Mikrofone.