„SERIÖSE KUNSTWERKE HUMANISTISCHEN GEISTES“

Wenige Tage nach dem Mauerfall haben ein Westberliner und eine Ostberlinerin eine grandiose Idee: Sie wollen die Ostseite der Mauer zur größten Freiluftgalerie der Welt machen. Aber dafür müssen sie erstmal mit der NVA verhandeln. Über die unbekannte Entstehungsgeschichte der »East Side Gallery«. DAS MAGAZIN. Januar 2016

An der Innenseite der Zimmertür klebt, eingerahmt, eine schwarze Socke. Es riecht energisch nach Zigaretten und Zigarillos. Das Himmelsbild, das über dem Bett hängt und in zartestem Hellblau gehalten ist, will gar nicht so recht zu dem Dunst passen. Alles wirkt klein, bescheiden, ein bisschen runtergekommen. Dabei sieht die Seniorenresidenz in Berlin-Mitte von außen schick und stattlich aus. Doch hier, in dem ebenerdigen, 8-Quadratmeter großen Hinterhofzimmer, ist von großstädtischem Fassadenglanz nichts zu spüren.

Dave Monty, der mit langen grauen Haaren am Tisch sitzt und mit einem Strohhalm Bier aus einer Tasse trinkt, ist vermutlich der vergessenste Künstler, den Berlin zu bieten hat. Kein Verdienstkreuz, keine Ehrenbürgerschaft, kein gar nichts. Obwohl sein Vermächtnis heute eine der bekanntesten Touristenattraktionen der Stadt ist. Millionenfach bestaunt, fotografiert, bekritzelt. Gegenstand von unzähligen lokalen Dramen, von Restaurierungsdebatten, von Investorenintrigen, von Massendemonstrationen… Die Rede ist von der East Side Gallery. Diesem 1,3 Kilometer langen Stück ehemaliger Hinterlandmauer, das entlang der Mühlenstraße in Berlin-Friedrichshain verläuft und von über 100 Künstlern aus dutzenden Nationen bemalt wurde. Der Gründungsmythos geht so: Die Mauer fiel, die Grenze war offen – deshalb taten sich zahlreiche Maler im Frühling 1990 zusammen und schufen eindrückliche Werke, mit denen sie das Weltgeschehen kommentierten und zu Frieden und Völkerverständigung aufriefen.

War es denn nicht so?

Monty schüttelt entschieden den Kopf. Es gibt nämlich noch eine andere Version der Geschichte. Und in dieser Geschichte spielt auch die Nationale Volksarmee der DDR eine entscheidende Rolle. Und am Ende war es offenbar ausgerechnet das DDR-Verteidigungsministerium, das das Mauerstück am Ostbahnhof vorschlug und vor dem Abriss schützte. Doch dazu später mehr.

Dave Monty wird 1949 in Hessen geboren. Mit acht Jahren schicken ihn seine Eltern in ein Schweizer Internat, wo er 1965 seinen Abschluss macht. Der Vater hat nun hochtrabende Pläne mit dem Sohn: Er soll nach Berlin umziehen, dort Jura studieren und anschließend eine Stelle als Richter oder Staatsanwalt annehmen. In der fremden Großstadt wohnt der 16-Jährige in einem möblierten Zimmer. Seine Vermietern, eine Russin, passt auf, dass er nach 18 Uhr nicht mehr die Küche benutzt. Er unterläuft das Verbot, indem er aus Büchern und Elektro-Bügeleisen eine Kochplatte improvisiert. Auch das Jurastudium boykottiert er bald. Er heuert heimlich beim Radio an, moderiert Schlagersendungen, machte Reportagen und Interviews. »Zigeunerberuf«, kommentiert der Vater. »Ich verdiene mehr Geld als du«, kontert der Sohn.

Bis in die frühen 1970er geht das so. Monty tingelt zwischen verschiedenen Radiosendern in verschiedenen Städten hin und her. Mittlerweile wohnt er in einer großen Fabriketage in Kreuzberg, die er auch als Atelier nutzt. Das Malen – Acryl auf Leinwand – hat er sich selbst beigebracht. Im Laufe der Jahre nehmen die Anfragen von Kaufinteressenten zu. Mit einem Galeristen arbeitet Monty trotzdem nicht zusammen. »Ich wurde einfach immer angesprochen: Ey, kannste mir ein Bild malen?« Er malt abstrakte Werke, in der Regel zwei mal zwei Meter. Die Kunden dürfen vorab ihre Lieblingsfarbe angeben, die baut Monty dann ein. Ein einträgliches Geschäftsmodell.

Die Mauer, die nur wenige Meter entfernt verläuft, interessiert ihn nicht näher. Auch im Osten der Stadt ist er selten. Aber wie kommt er dann kurz nach dem 9. November 1989 auf einmal auf die Idee mit der Open-Air-Galerie? Wann, wie und wo springt ihn der Einfall an? Dave Monty kann das nicht mehr so genau sagen. Auch manch anderes Ereignis bleibt im Gespräch schemenhaft. Monty ist heute, mit 66 Jahren, körperlich stark eingeschränkt. Das Laufen fällt ihm schwer, seine linke Gesichtshälfte ist gelähmt. 2004 hat er sich bei einem Sturz zuhause eine Genickfraktur zugezogen.

Licht ins Dunkel der Erinnerungen kann dafür die Künstlerin Heike Stephan bringen, die in Löhma in Thüringen lebt. Sie war die letzte langjährige Lebensgefährtin des 2006 verstorbenen Musikers Klaus Renft. Am 21. November 1989 bemalt sie zusammen mit anderen Künstlern aus der DDR ein Stück Mauer am Potsdamer Platz – eine spontane Aktion des Verbands Bildender Künstler. Die Bilder werden von den Grenzsoldaten sofort wieder übergestrichen. Bei der Aktion hat Heike Stephan auch Fotos gemacht. Darüber kommt sie mit einer Frau aus dem Westen ins Gespräch. Die stellt den Kontakt zu Dave Monty her. „Wir saßen dann bei ihm zuhause und haben rumgesponnen.“ Auf einmal steht eine verrückte Idee im Raum: „Wir machen die weltgrößte Galerie an der Mauer!“ Stephan ist begeistert und sagt sofort ihre Unterstützung zu.

Schon Anfang Dezember 1989 präsentieren die beiden das Projekt, für das es noch kein Geld und keinerlei offizielle Genehmigungen gibt, gemeinsam der Öffentlichkeit. Selbstbewusst posieren Monty und Stephan vor der Mauer und werfen vor Journalisten mit Superlativen um sich. Mit dem Satz „Die Mauer soll die größte Galerie der Welt werden“, so werden sie in der Bild-Zeitung zitiert. „Die Aktionskünstlerin aus dem Prenzlauer Berg und der Fotokünstler aus Schöneberg haben einen tollen Plan: 1000 Künstler als Ost und West malen tausende bunte Bilder auf die Ostseite der Mauer.“ Von 10 000 Pinseln und 35 Tonnen wasserfester Farbe ist die Rede.

Stephan erinnert sich, dass sie dann sich zunächst an das Kulturministerium der DDR wenden. Dort fühlt man sich nicht zuständig, verweist die beiden Künstler an das Ministerium für Nationale Verteidigung: Die Mauer untersteht schließlich der NVA, die soll das entscheiden. Mehrere Male, so erzählen es Monty und Stephan übereinstimmend, gibt es in den kommenden Wochen Telefonate und Treffen mit der NVA. Mal finden die Verhandlungen in Mitte in einem Hotel statt, mal östlich von Berlin in Strausberg. Dort hat das Ministerium für Nationale Verteidigung seinen Sitz. An den Gesprächen nehmen ranghohe Armeeangehörige teil. „Und einmal kamen die auch rüber in den Westen zu einem Treffen“, sagt Stephan. Diesmal sind die Herren von der Armee allerdings in Zivil.

Politische Themen meidet Monty in diesen Gesprächen. »Da habe ich mich total rausgehalten. Ich wusste, dass es sonst nie funktionieren würde.« Seine Forderungen sind trotzdem unmissverständlich: Bei der Auswahl der Künstler und der Motive soll das DDR-Verteidigungsministerium kein Mitspracherecht haben. Einen Namen, der nach weiter Welt klingt, hat sich der Westberliner ebenfalls schon überlegt: »East Side Gallery«. Die NVA lässt sich darauf ein, allerdings unter einer Bedingung: Es müsse sich »um seriöse Kunstwerke humanistischen Geistes« handeln. »Antisemitismus, Rassismus und politische Hetze hätten dabei keinen Platz.«

So formuliert es Generalmajor Steurich am 7. Februar 1990 in einem Brief an Montys Anwalt Klaus Krüger. Anruf bei Peter Steurich, der bei der NVA von 1981 bis 1990 für kulturpolitische Angelegenheiten zuständig war und bis heute in Strausberg lebt. Wie auch Heike Stephan hat er in den letzten Jahrzehnten nie öffentlich über die Vorgeschichte der East Side Gallery gesprochen. „Ich muss nur manchmal schmunzeln, wenn ich wieder irgendwo lese, da hätten sich 1990 spontan Künstler zusammengefunden.“ Steurich bekommt damals die Anweisung, sich mit der Anfrage zu befassen. Und er ist es auch, der das Treffen in Westberlin organisiert. „Ich schickte zwei meiner Mitstreiter: Herrn Oberst Schneider und den Direktor des Armeemuseums von Dresden, Oberst Dr. Alfred Nikolaus.“ Er habe außerdem Rücksprache mit dem Verband Bildender Künstler gehalten und mit dem Magistrat von Ostberlin, sagt Steurich. Und dann, trotz turbulenter politischer Zeiten, relativ schnell seine Zustimmung gegeben.

Nun gibt es also die Zusage der NVA – aber immer noch keinen konkreten Mauerabschnitt, auf dem die riesige Open-Air-Galerie realisiert werden kann. Hier kommt Anwalt Klaus Krüger ins Spiel, ein langjähriger Bekannter von Dave Monty aus Westberlin. Auf Montys Drängen hin setzt Krüger im Januar 1990 ein Schreiben an das Verteidigungsministerium auf. Daraufhin wird kurzfristig eine Ortsbegehung vereinbart, bei der der Anwalt ebenfalls anwesend ist. „Das war aus meiner Sicht ein Freundschaftsdienst“, erzählt er. „Ich habe der ganzen Sache keine große Bedeutung zugemessen.“ Welche Berühmtheit dieses Stück bemalter Mauer einmal erlangen würde, ahnt der Anwalt damals nicht im Entferntesten. „Für mich war das eine Randepisode.“

Krüger erinnert sich, dass sie zunächst am Brandenburger Tor und am Potsdamer Platz herumgelaufen seien, denn hier wollten Stephan und Monty die Galerie ursprünglich verwirklichen. Die NVA lehnt das ab. Die Fahrt geht weiter zur Oberbaumbrücke. Dort präsentieren die Verhandlungspartner aus dem Osten ihren Gegenvorschlag: Die Künstler könnten den Mauer-Kilometer entlang der Mühlenstraße haben. Monty ist einverstanden. Heike Stephan dagegen ist nicht zufrieden. Sie findet einen Kilometer zu wenig, die ganze Sache ist ihr zu klein. „Ich wollte was Größeres, vielleicht auch nur temporär, mit berühmten Künstlern.“ Monty verfolgt einen anderen Ansatz: Er ruft Kollegen aus aller Welt auf – egal ob sie jung oder alt, bekannt oder unbekannt sind – anzureisen und Entwürfe einzureichen.

Ab hier nimmt die Geschichte der East Side Gallery ihren bekannten Lauf. Und fast gleichzeitig verschwinden die ursprünglichen Akteure von der Bildfläche. Bei der feierlichen Eröffnung der East Side Gallery im September 1990 ist Dave Monty schon nicht mehr dabei. In den Monaten davor haben sich andere um die tägliche Organisation und um die konkrete Realisierung gekümmert. Schnell entstehen dabei erste Streitereien: Wer kriegt wie viele Meter Mauer, wer darf sich zum Gründungsteam zählen, wem gebührt der Ruhm, wer verdient wie mit? Kurzzeitig stehen sogar der komplette Verkauf der bemalten Mauersegmente oder die Kommerzialisierung durch integrierte Werbeflächen zur Debatte.

Dass sich solche Vorschläge nicht durchsetzen können und die East Side Gallery schon 1991 unter Denkmalschutz gestellt wird, ist Dave Monty bis heute eine große Genugtuung. Mit dem Verein Künstlerinitiative East Side Gallery e.V., der sich 1996 zum Schutz und Erhalt gründet und bis heute existiert, hat er trotzdem nichts zu tun. Auf vielen Webseiten, die über die Entstehungsgeschichte der East Side Gallery informieren, taucht sein Name – oder der von Heike Stephan – nicht einmal auf.

Über zwei Jahrzehnte lang hat das den Ideengeber weder gestört noch interessiert. Erst jetzt, wo er zum ersten Mal nach seinem schweren Unfall neue Pläne schmiedet und so gerne in Zukunft schauen möchte, ist ihm klar geworden, dass er ein paar Dinge aus der Vergangenheit gerne klarstellen würde. Kürzlich hat er bei einer Entertainment-Agentur in Tempelhof angerufen und wollte seine neuste Idee vorstellen. »Ich bin der Gründer der East Side Gallery« – so begann er das Gespräch. »Nein, das sind Sie nicht«, musste er sich daraufhin anhören, »der heißt doch ganz anders.«

Das will Dave Monty nicht mehr auf sich sitzen lassen.

 

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