„EIN BISSCHEN MUSIK WÄRE JETZT SCHÖN“

Ein Nachmittag mit Gisela May. DAS MAGAZIN. Oktober 2014 Die Fenster sind geschlossen, die Heizung aufgedreht, warme Luft schlägt dem Gast entgegen. Gisela May sieht schmal aus, vermutlich friert sie schnell. Ansonsten ist die Schauspieler und Sängerin unverkennbar die Alte: dunkelblond gefärbter Pagenkopf mit Pony, eine schwarz-weiß karierte Stoffhose, darüber Bluse und Jackett. Sie ist selbst an die Tür gekommen um zu öffnen, beweglich ist sie noch, auch die Ohren sind gut wie eh und je, nur das Augenlicht hat deutlich nachgelassen. Wir setzen uns ins Wohnzimmer, wo ein Freund Wasser und Gläser bereit gestellt hat. Gemütlich ist es, kein bisschen protzig oder selbstverliebt, es hängen keine Fotos oder Plakate mit ihrem eigenen Konterfei an den Wänden, statt dessen ein alter Bauernschrank, ein prallgefülltes Bücherregal, Schallplattensammlung und Stereoanlage, an den Wänden bunte Ölbilder. Der Gast legt ein paar aktuelle Magazin-Hefte auf den Tisch, sie tastet, erinnert sich anderes Papier, ein bisschen anderes Format. „Das war immer Mangelware, gar nicht nur wegen dieses Aktfotos. Wir wollten es immer sofort haben, aber oft gab es keins. Wenn einer eins hatte, sagte man, wenn du‘s zuende gelesen hast, krieg ich es.“

So. Das zum Auftakt. Aber wie nun anfangen? Was reden mit einer Frau, über die alles gesagt und geschrieben zu sein scheint? Im Mai dieses Jahres ist Gisela May 90 Jahre alt geworden, noch einmal waren die Zeitungen voll mit Hymnen auf sie und ihr Lebenswerk. „Eine, die Bertolt Brecht begegnet ist, von Hanns Eisler 1957 höchstselbst fürs Chanson entdeckt wurde, die […] auf Konzertbühnen von der New Yorker Carnegie Hall bis zur Mailänder Scala gefeiert wurde“, schrieb der Tagesspiegel. Sie weiß das sicher, freut sich aber doch, als der Gast das mediale Jubiläumsrauschen erwähnt. „Ist das wahr? Da stand hoffentlich nur Gutes“, sagt sie.

Wir wollen aber gerade nicht über das reden, was alle schreiben, nicht über Brecht und Eisler, auch nicht über ihre Karriere als Chansonsängerin, schon gar nicht über die Film- und Fernseherfolge. Schweigen wir über „Adelheid und ihre Mörder“, weiß man alles, kann man alles bei Wikipedia nachlesen. Stochern wir lieber behutsam in den Anfängen, in den zwanziger, dreißiger Jahren, Kindheit, Elternhaus. 1924 geboren in Wetzlar, Tochter des Schriftstellers Ferdinand May und der Schauspielerin Käte May, noch in den 20er Jahren Umzug nach Leipzig, wo ihr Vater, überzeugter Kommunist und Antifaschist, zunächst ein städtisches Unternehmen leitet, das Arbeiterfamilien günstig mit Möbeln versorgt. Viele Jahre später wird er Chefdramaturg am dortigen Theater. „Eine Künstlerfamilie“, erinnert sich May, „sehr frei und sehr links.“ Wegen ihrer politischen Ansichten hätten die Eltern stets auf der Hut sein müssen, „es war sehr gefährlich, sich zu äußern, vor allem gegenüber den anderen Mietern im Haus.“ Einen sehr aufmerksamen Hauswart habe es dort gegeben, „der wollte immer wissen, wen man empfängt.“ Im Haus der Mays gehen Schauspieler ein und aus, es wird diskutiert und gefeiert. Oft belauscht Gisela die Erwachsenen, hört heimlich zu, wie ihre Mutter bei diesen Gesellschaften Texte und Lieder vorträgt: „Und der Haifisch, der hat Zähne…“ Brechts Moritat von Mackie Messer aus der 1928 uraufgeführten Dreigroschenoper ist um 1930 ein Welthit.

„Ich hatte ein tolles Elternhaus“, sagt sie, stundenlang habe sie mit ihrer Mutter Platten gehört, es wurde gemalt, der Vater las aus seinen Büchern vor und diskutierte die Textfassungen mit der Familie. „Und dann kam diese grauenhafte Zeit, dieser entsetzliche Krieg, wo alles abbrach.“ Gisela May hat einen drei Jahre älteren Bruder, 1939 ist er 18 Jahre alt, zunächst bewahrt ihn ein Chemiestudium davor, als Soldat eingezogen zu werden. Doch der Aufschub währt nicht lange genug, der Bruder muss schließlich doch in den Krieg. Der Vater, der aus dem ersten Weltkrieg als überzeugter Pazifist wiedergekehrt war, kann nicht verhindern. 1943 stirbt der junge May an der Front, 22 Jahre wird er nur alt, und nicht eine einzige Freundin habe er gehabt in seinem kurzen Leben. „Meine Eltern sind fast verrückt geworden“, sagt Gisela May. Der Schmerz ist umso größer, weil er nicht gezeigt werden darf. „Auf den Karten, die man damals verschicken sollte, stand: ‚In stolzer Trauer‘.“ Die Mutter droht an dem Verlust zu zerbrechen, muss kurzzeitig in ein Sanatorium.

Danach, sagt May, habe sich alles nur noch auf sie, die Tochter, konzentriert. „Meine Mutter war begeistert von der Idee, dass ich Schauspielerin werden wollte.“ Die Bühnenwelt steht im Hause May im Zentrum der Aufmerksamkeit, „Theater war bei uns das entscheidende.“ Käte May selbst stammt aus einem bürgerlich-konservativen Elternhaus, hat wie jede höhere Tochter früh Klavierunterricht erhalten, aber ihre Schauspielambitionen stoßen zuhause auf wenig Gegenliebe. Sie übt ihren Beruf kaum öffentlich aus. Dass die Tochter nun ans Theater gehen wird, ist auch für sie die Erfüllung eines Lebenstraums. Gisela May besucht noch in den Kriegsjahren in Leipzig die Schauspielschule, es folgen erste Engagements in Görlitz und Schwerin. Auf dem Spielplan Ende der 40er Jahre stehen Komödien und Klassiker. Käte May ist unglaublich stolz: „Meine Mutter kam zu jeder Premiere angereist, oft auch zu den Proben.“ Hinterher geht sie mit der Tochter das Stück durch, kommentiert jeden Ausdruck, jede Geste.

Man darf sich die junge Darstellerin Gisela May als durchaus zielstrebige und selbstbewusste Person vorstellen. Wenn sie an einer kleinen Bühne eine Rolle spielt, lädt sie gezielt Regisseure und Dramaturgen größerer Bühnen ein, sich das Stück anzusehen. Sie will zu Vorsprechen eingeladenwerden, oft singt sie dabei auch ungefragt etwas vor. „Naja, dann singen Sie halt noch was“, sei eine typische Reaktion gewesen. So gut es ihr in Schwerin gefällt, sie möchte gerne an größere Häuser, größere Rollen spielen. Leipzig und Dresden haben einen guten Ruf, auch dort spielt sie bald.

Dann endlich gelingt der Sprung nach Berlin. Das Deutsche Theater gilt als beste Bühne des Landes, hier arbeiten legendäre Regisseure, hier werden wegweisende Inszenierungen herausgebracht. May kommt 1951 als neues Ensemblemitglied ans DT, es ist auch eines Zeit des politischen Drucks und großen ökonomischen Mangels in Ostberlin, der dann 1953 im Arbeiteraufstand mündet. Die Erinnerungen an die politischen Rahmenbedingungen dieser Jahre sind bei der 90-Jährigen verblasst, was präsent geblieben ist, ist die allumfassende Liebe zum Theater. Und das Gefühl des Glücks, an diesem großartigen Haus arbeiten und spielen zu dürfen. „Es war eine sehr gute Atmosphäre!“ Sie lebt in einem möblierten Zimmer in Mitte, im Theater gibt es „Gott sei Dank“ jeden Tag warmes Mittagessen.

Proben und Aufführungen bestimmen ihren Tag. „Ich spielte meistens die, die ein bisschen singen konnten und fröhlich waren.“ 1962, sechs Jahre nach Brechts Tod, wechselt sie zu Helene Weigel ans Berliner Ensemble. „Das war eine große Entscheidung.“ Aber Brecht sei für sie in diesen Jahren immer wichtiger geworden, „seine Stücken waren eine Sensation.“ May, mittlerweile knapp vierzig Jahre alt, will dazu gehören zu dem Ensemble, das diese Stücke spielt. „Man wohnte bescheiden, an ein Auto war nicht zu denken – aber darum ging es gar nicht.“ Es ging um neue Formen und neue Inhalte. „Ich wollte bei Stücken mitspielen, die das Publikum bis dahin nicht hatte sehen können.“ Im öffentlichen Gedächtnis klafft eine Lücke, viele bedeutende Theaterschriftsteller der 20er und 30er Jahre waren während der Nazizeit von den Spielplänen verbannt gewesen. Am BE werden viele neue oder unbekannte Theaterstücke gezeigt, die Kostüme dazu müssen mit einfachsten Mitteln hergestellt werden. „Trotzdem war das großartig“, sagt May, „der reine Enthusiasmus.“ Und die Mission des Ensembles war klar: „Wir wollten, dass das Theater wieder eine Bedeutung in der Öffentlichkeit bekommt.“ Im Zentrum dieses Enthusiasten-Kosmos: die Brechtwitwe Weigel. Später wird Gisela May sie als Mutter Courage ablösen, wird 13 Jahre lang die Rolle spielen, mit der Weigel 1948 Theatergeschichte geschrieben hat. Wie ist es gewesen, das Verhältnis zur Intendantin, Kollegin, künstlerischen Übermutter? „Natürlich war sie für uns eine absolute Respektsperson, aber auch eine ganz fabelhafte Frau, die ich sehr verehrt habe“, sagt Gisela May. „Weigel selbst wollte das gar nicht, sie sagte immer zu allen ‚du‘.“ Als May die Chefin darum bittet, die Hauptrolle in einem Singspiel an einem benachbarten Unterhaltungstheater annehmen zu dürfen, hat Weigel keine Einwände. „Du kannst alles machen“, antwortet die Intendantin, „dort das heitere und bei uns die tragischen Rollen.“

So kam es, der Rest ist bekannt. Gisela May wechselt jahrzehntelang zwischen den Welten, singt Lieder von Weill und Eisler und Dessau, aber auch Chansons und Musicals, sie füllt Säle, nimmt unzählige Platten auf, schreibt zwei Biografien, wird sowohl in der DDR als auch in der BRD mit jeder erdenklichen Auszeichnung geehrt. Wie passt es da ins Bild, dass sie ab Mitte der sechziger Jahre lange mit Wolfgang Harich liiert ist, dem kritischen Intellektuellen, der – nachdem er offen parteiinterne Reformen und die Entmachtung Ulbrichts gefordert hatte – 1956 verhaftet und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt wird? Ein Lächeln geht über Mays Gesicht: „Das ist aber schön, dass Ihnen der Namen Harich noch ein Begriff ist.“ Sehr innig sei die Zeit gewesen, „ein wunderbares Zusammensein, wir hatten uns sehr lieb.“ Die Jahre im Gefängnis, nein, das habe nicht zwischen ihnen gestanden. „Es war immer meine Angst, dass er sich dauernd damit quält, aber er konnte das souverän zur Seite schieben.“ Natürlich habe man diskutiert über Politik und Kultur. „Aber in einer künstlerisch aufgeschlossenen und vorwärts gewandten Atmosphäre, die mich sehr beeinflusst hat.“ Und dann erzählt Gisela May noch von der kleinen Katze, die sie damals hatte und die auch Harich sehr geliebt habe. „Wir saßen an einem dieser Nachmittag zusammen, und ich glaube, wir nannten die Katze Walter, wie Walter Ulbricht.“

Künstlerisch sind Bertolt Brecht und Kurt Weill ihre Favoriten geblieben, bis heute. Zum Ende des Gesprächs legt sie eine Platte auf, „ein bisschen Musik wäre doch jetzt schön, oder?“ Es erklingen die ersten Takte von „Die sieben Todsünden der Kleinbürger“, ein satirisches Ballett mit Gesang aus dem Jahr 1933, in dem es um ein junges Mädchen geht, dass von seiner Familie zum Geldverdienen in die Großstadt geschickt wird. Von der Platte ertönt Mays unverwechselbar eindringliche Stimme: „Als wir aber ausgestattet waren, Wäsche hatten, Kleider und Hüte, fanden wir auch bald eine Stelle in einem Kabarett als Tänzerin.“ May ist jetzt ganz bei ihrem Lebensthema, schwärmt von großen Orchestern, von den Momenten der Aufnahmen, wenn alles auf den Punkt stimmen muss, von raffinierten Arrangements und Disharmonien. Und natürlich von den großartigen Texten Brechts. „Ach, es war nicht leicht für Anna. Kleider und Hüte machen ein Mädchen hoffärtig“, singt ihre eigene Stimme dazu im Hintergrund.

Bevor der Gast dann zur Tür begleitet wird, muss er noch an die Wand gegenüber der Couch treten. Das Bild ansehen, das dort hängt. Gisela May macht extra die Stehlampe an, damit es in der dunklen Zimmerecke heller wird. Das Ölgemälde, vielleicht 40 mal 30 Zentimeter groß, ist sichtlich von Van Gogh inspiriert. Es zeigt einen jungen Mann mit gelbem Hut, er geht einen sonnigen Feldweg entlang, auf dem Rücken trägt er eine Staffelei. Gisela Mays Bruder hat es gemalt. „Ich hatte so einen tollen Bruder, er konnte zeichnen, er war musisch begabt. Und wird dann eingezogen in diese Naziarmee.“ 90 Jahre pralles Leben, eine sagenhafte Karriere. Und was bleibt, was ist so wichtig, dass wir an diesem warmen Spätsommertag darüber reden müssen? Ein Bruder, ein Bild, ein Krieg.

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