A BIS BUCHSTERBEN

Ende einer Wissenschaftsepoche: Das Grimmsche Wörterbuch wird von einem Online-Portal ersetzt. TAGESSPIEGEL. 29. November 2012.

Volker Harm, Sprachwissenschaftler aus Göttingen, ist diese Woche mit „brummeln“ und „Brummbären“ beschäftigt. Wie und wo brummelt es in Deutschland, wann wird jemand als Brummbär bezeichnet? Das sind Fragen, die die Autoren eines Wörterbuchs umtreiben. Die Wissenschaftler tragen Beispiele aus den letzten Jahrhunderten zusammen, schauen, wo die Wörter herkommen, ob sie aussterben oder Bedeutungsschwankungen unterliegen. In tausendseitigen Nachschlagewerken dokumentieren sie dann den Zustand und Werdegang der deutschen Sprache, Wort für Wort.

Das heißt: So wurde es bisher gehandhabt. 2013 endet diese Wissenschaftsepoche. Die Lexikographie goes Internet. Und das berühmteste aller Wörterbücher, das Grimmsche Wörterbuch, ist Geschichte. Es erleidet damit das gleiche Schicksal wie viele andere Lexika. Weder das „Große Wörterbuch der deutschen Sprache“ aus dem Duden Verlag noch die „Brockhaus Enzyklopädie“ werden noch neu aufgelegt. Es gibt schlicht keinen Markt mehr für die teuren Folianten. Die Nutzer sind längt ins Internet abgewandert. Die Verlage konzentrieren sich mittlerweile auf handliche Formate für Schüler, Studierende, Reisende.

Ist also nur ein weiteres Opfer des digitalen Wandels zu beklagen? Beim Grimmschen Wörterbuch liegt der Fall ein wenig anders. Das Projekt wird nicht von einem Verlag, sondern von den Akademien der Wissenschaften, also aus Steuergeldern finanziert. Und das Wörterbuch soll auch nicht verschwinden, sondern in Form des Online-Portals „Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache“ (DWDS) (www.dwds.de) weiterleben. Für Papier-Nostalgiker möglicherweise keine schöne Vorstellung. Aber um Haptik geht es erst mal gar nicht. „Das war uns allen klar, dass Print ein Auslaufmodell ist“, sagt Harm, der seit 1998 am Grimmschen Wörterbuch arbeitet.

Viel entscheidender ist, dass mit der Umstellung auf das „digitale Informationssystem“ möglicherweise auch eine methodische Neuorientierung einhergehen wird. Und die ist keineswegs unumstritten. Sowohl in Göttingen als auch in Berlin, wo die beiden wissenschaftlichen Teams des Grimmschen Wörterbuchs bisher saßen, sorgt man sich: Wird bei dem DWDS überhaupt noch historisch weitergeforscht – oder konzentriert man sich demnächst nur auf die Gegenwartssprache? „Im Grunde ist die gesamte jüngere Sprachgeschichte ab 1650 sehr schlecht beschrieben. Da müsste man eigentlich nochmal ran“, erläutert Harm. Aber wie soll das zukünftig geleistet werden?

Man muss kurz ausholen, um die ganze Tragweite des Problems zu erläutern. Da waren also die Brüder Grimm, Jacob und Wilhelm, die um 1840 erstmals mit der Arbeit an einem umfassenden historischen Wörterbuch begannen. 1852 erschien die erste Lieferung, bis zu ihrem Tod 1859 bzw. 1863 schafften es die beiden Wissenschaftler noch bis zum Buchstaben F. Das Mammutprojekt wurde danach von diversen staatlichen Institutionen weitergeführt, 1960 war man endlich beim Z angekommen. Und blickte auf ein ebenso opulentes wie bereits wieder hoffnungslos veraltetes 32-bändiges Nachschlagewerk. Also: Gleich wieder vorne anfangen, beim A.

Die Geschichte zeigt das grundlegende Dilemma der Lexikographie: Es ist eine langsame Wissenschaft an einem sich schnell und permanent verändernden Objekt. Je genauer die Methoden und je umfangreicher die Textsammlungen über die Jahrzehnte wurden, desto mehr rannte den Wissenschaftler ihr Untersuchungsgegenstand davon. Während die Sprachhistoriker noch die alten Wörter in Form kleiner Papierhäufchen sammelten, sortierten, ableiteten, erklärten, waren schon wieder Legionen neuer Ausdrücke entstanden.

Seit 1960 müht man sich nun also zum zweiten Mal mit den Buchstaben A bis F ab. Die Berliner Arbeitsgruppe ist so gut wie fertig, die Göttinger haben nochmal eine Verlängerung bis 2016 beantragt – um Wörter wie „brummeln“ und „Brummbär“ fertigzustellen. Dass es so nicht weitergehen konnte, ist schon seit Jahren klar. Wann wäre man jemals wieder bis zum Z vorgedrungen, in zwei- bis dreihundert Jahren?
Auch die Erscheinungsform des Grimmschen Wörterbuchs ist nicht mehr zeitgemäß. Bisher wurden von jedem neuen Band jeweils nur ein paar hundert Exemplare gedruckt, die dann gut behütet in Bibliotheken standen. „Der öffentliche Zugang war reine Theorie“, sagt Wolfgang Klein, Projektleiter des DWDS. Das Internetportal ist deutlich einladender: Jeder kann darauf zugreifen, die Nutzung ist kostenlos, eine Anmeldung möglich, aber nicht nötig.

Auch sonst hat die neue Webseite einiges zu bieten. Sie verknüpft die Einträge des Grimmschen Wörterbuchs mit einem „Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“ und einem „Etymologischen Wörterbuch des Deutschen“. Zu den derzeit 70.000 Stichwörtern kann man sich außerdem Beispielsätze, Statistiken und häufige Wortkombinationen anzeigen lassen. Das DWDS greift dazu auf eine Datenbank aus 2,5 Milliarden Textwörtern zurück, darunter literarische Werke, Zeitungsartikel, Fachprosa, Gebrauchstexte. Und das ist erst der Anfang, weitere zwanzigtausend Stichwörter sollen noch integriert werden. Auch Audiodateien und multimediale Elemente sind denkbar.

Welche Rolle dabei die bisherigen wissenschaftlichen Redaktionen aus Berlin und Göttingen spielen werden, ist dagegen unklar. Etliche Verträge der 22 Akademie-Mitarbeiter wurden nicht mehr verlängert. Das DWDS ist auf die Darstellung der Gegenwartsprache ausgerichtet. Eine „historische Vertiefung“, wie sie das Team des Grimmschen Wörterbuchs geleistet hat, ist laut Harm zwar auch im Rahmen des Onlineportals denkbar. Aber noch gäbe es dafür keine Fördergelder. Und möglicherweise überfordere man das DWDS mit seiner derzeitigen Ausstattung auch, wenn jetzt ab sofort gleichzeitig in die Breite und Tiefe geforscht werden soll – von A bis Z, vom 17. Jahrhundert bis ins dritte Jahrtausend.

Abgesehen davon müssen sich die Mitarbeiter des Digitalen Wörterbuchs in den kommenden Jahren noch einer ganz anderen Aufgabe stellen. Wie sollen die enormen Datenmengen gesichert und gepflegt werden? „Die größte Herausforderung ist die Erhaltung“, sagt Wolfgang Klein. Viertausend Jahre alte Tontäfelchen liegen immer noch gut in der Hand, Bücher aus der frühen Neuzeit sind immer noch lesbar. Anders sieht es mit Dateiformaten und Datenbankensystemen aus, sie haben oft nur eine Lebensdauer von wenigen Jahren.

„Wir versuchen deshalb, möglichst keine selbstgestrickte Software zu verwenden, sondern auf Programme zurückzugreifen, die weit verbreitet sind“, erklärt der Projektleiter. Und selbstverständlich wird das Digitale Wörterbuch nicht nur auf den Servern der Akademie aufbewahrt, sondern sicherheitshalber auch noch an einigen anderen Orten. Trotzdem, so Klein, sei das grundsätzliche Problem der Digitalisierung damit nicht gelöst. „So paradox es klingt: Die beste Datensicherung für das digitale Wörterbuch wäre ein Ausdruck auf Papier.“

Comments are closed.