WIKIPEDIA FORSCHT MIT

Das Deutsche Archäologische Institut hat neuerdings einen eigenen Wikipedianer. Die Kooperation soll mehr sein als eine PR-Aktion. TAGESSPIEGEL und ZEIT ONLINE. 23. August 2012

Die Zeit scheint stehengeblieben in der ruhigen Podbielskiallee in Dahlem: In dem verwunschenen Garten blühen die Stauden, innen in der graue Villa knarrt das Parkett. Im Haus Wiegand, der Zentrale des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI), spürt man immer noch den Atem des frühen 20. Jahrhunderts.

Aber längst auch den des 21. „Wir versuchen, die Wikipedia-Kultur ins Becken der DAI-Kultur werfen.“ Der Mann, der das sagt, heißt Reinhard Foertsch, seit Anfang August ist der Kölner Archäologie-Professor hier neuer Wissenschaftlicher Direktor für Informationstechnologie. Und Foertsch hat ehrgeizige Pläne, sowohl für die Restrukturierung interner Prozesse als auch für die Sichtbarkeit deutscher archäologischer Forschungsarbeiten im Internet.

Dass er dabei aber ausgerechnet mit Wikipedia kooperiert, ist keine Selbstverständlichkeit. Zwar nutzen viele Wissenschaftler die Webseite im Alltag, wissenschaftlich anerkannt aber ist das von Laien geschriebene Online-Lexikon nicht, geschweige denn zitierfähig. Was also will ein weltweit anerkanntes Institut, das 400 Mitarbeiter in 12 Ländern beschäftigt und auf eine fast zweihundertjährige Forschungsgeschichte zurückblickt, mit einem hauseigenen Wikipedianer?

Auch wenn das DAI damit in Deutschland Neuland betritt – international befindet sich Foertsch in guter Gesellschaft. Den Anfang machte 2010 der Wikipedia-Autor Liam Wyatt am British Museum in London, es folgten Wikipedianer in Versailles, am Museum of Modern Art in New York, am Museu Picasso in Barcelona und in vielen anderen Einrichtungen. „Das Residence-Programm ist Teil der sogenannten GLAM-Bewegung in der Wikipedia-Community“, erklärt Barbara Fischer vom Förderverein Wikimedia Deutschland. GLAM steht für Galleries, Libraries, Archives und Museums. Seit knapp zwei Jahren bemühen sich die Hobby-Enzyklopädisten, weltweit enger mit Archiven und Forschungseinrichtungen zusammenzuarbeiten. Unter dem Dach von GLAM finden gegenseitige Weiterbildungen statt, redaktionelle Zusammenarbeiten, die Erschließung digitaler Bestände sowie die Entwicklung neuer Formen der Wissensvermittlung oder -darstellung.

Das alles ist jetzt auch die Aufgabe von Marcus Cyron, der bis Ende 2012 am Deutschen Archäologischen Institut arbeiten wird. „Für mich geht damit ein Lebenstraum in Erfüllung“, sagt der 36-Jährige, der aus gesundheitlichen Gründen sein Studium nicht beenden konnte. Fachliche Qualifikationen bringt der ehemalige Student der Altertumswissenschaften, der seit sieben Jahren Wikipedia-Autor ist, trotzdem reichlich mit. Von den rund 26.000 Artikeln, die es in der deutschsprachigen Wikipedia zum Thema Altertum gibt, hat Cyron über 2.000 geschrieben, darunter auch den Eintrag zum Pergamonaltar. „Außerdem habe ich mich ein wenig auf griechische Keramik spezialisiert“, erklärt der Vielschreiber bescheiden.

Aber um Becher oder Vasen geht es in den kommenden Monaten gar nicht. Cyrons Werkvertrag wird zwar sowohl vom Verein Wikimedia als auch vom DAI finanziert, als gefälliger Auftragsautor ist er aber ausdrücklich nicht engagiert. Er wird weder neue Artikel über archäologische Artefakte oder Ausgrabungsstätten produzieren, noch zusätzliche Links auf die Bilddatenbank ARACHNE setzen, in der das DAI seine Digitalisate veröffentlicht. „Ich betrachte die Wikipedia nicht in erster Linie als einen weiteren Baustein unserer Öffentlichkeitsarbeit“, sagt IT-Direktor Foertsch. Wikipedia sei vielmehr eine Schnittstelle zwischen dem Rohmaterial der Datenbanken und den gedruckten Publikationen, die beide jeweils nur von einem kleinen Fachpublikum verstanden würden. „In der Wikipedia werden archäologische Erkenntnisse für eine breitere Öffentlichkeit greifbar.“ Diesen Gedanken will Foertsch aufgreifen, ihn wieder in der Kommunikationskultur des Instituts verankern. „Damit interpretieren wir eigentlich nur den Gründungsgedanken des Instituts neu.“

Marcus Cyron führt deshalb vor allem Workshops durch, bei der die Institutsmitarbeiter das Innenleben der Wikipedia kennenlernen. „Ich erlebe dabei erstaunlich oft, dass die Wissenschaftler zwar Wikipedia als Leser nutzen, aber das Partizipationsprinzip, das dahinter steckt, überhaupt nicht verstanden haben.“ Cyron zeigt den Forschern, wie man mitschreiben kann, was aus Sicht der Wikipedia relevant ist, warum und wo wilde Debatten toben. Und natürlich hat er dabei auch eine politische Botschaft: Dass die Idee vom freien Wissen nicht nur von freiwilliger Mitarbeit, sondern auch von freien Lizenzen und Zugängen lebt. „Wenn ich es am Ende schaffe, wenigstens ein paar Wissenschaftler zur Partizipation zu ermutigen, wäre das schon ein großer Erfolg.“

Die Unterstützung des IT-Direktors hat er jedenfalls. „Man begibt sich mit Wikipedia in einen Diskursprozess“, sagt Foertsch begeistert, der am liebsten durchsetzen würde, dass DAI-Mitarbeiter auch in ihrer Arbeitszeit offiziell an Wikipedia-Einträgen mitwirken dürfen. Eine Einstellung, die noch lange nicht in allen Universitäten, Museen und Archiven salonfähig ist. Im Gegenteil: Meistens ist es für die ehrenamtlichen Wikipedia-Autoren schwer, sich überhaupt Zugang zu den Primärquellen zu verschaffen.

„Auch deshalb brauchen wir dringend solche Botschafter wie Marcus Cyron“, sagt Barbara Fischer. Zwar ist das Niveau der 1,4 Millionen deutschen Artikel mittlerweile beachtlich hoch, aber viele der Einträge müssen regelmäßig überprüft und aktualisiert werden. Für die deutschen Wikipedia-Autoren, deren Zahl zurzeit bei 6.500 stagniert, eine kaum noch zu bewältigende Aufgabe.

Fischer und ihre Kollegen bei Wikimedia bemühen sich deshalb seit Monaten, weitere Wikipedianer in Residence zu vermitteln. Interesse gibt es zwar, aber die Verhandlungen sind langwierig und schwierig. Und dass, obwohl der Förderverein die Kooperationen durchaus finanziell mitträgt. „Eigentlich müssten die Institutionen uns doch hier die Bude einrennen“, findet auch Pressesprecherin Catrin Schoneville. Noch aber herrscht großes Fremdeln seitens der deutschen Wissenshüter. „Da gibt es so viele Vorbehalte, das fängt bei Urheberrechtsbedenken an und geht bis hin zu der Sorge, dass im Museum die Besucher wegbleiben, wenn Abbildungen der Kunstwerke online zu sehen sind.“

Alles Unsinn, meint Cyron. Wikipedia schadet niemandem und nützt vielen. Weil es für die Wissenssuchenden oft die erste Anlaufstelle ist, und weil sie von hier aus weiterklicken: zu den Webseiten der Archive, Museen, Fototheken. „Über Wikipedia kommt nachweislich sehr viel Traffic“, erklärt er, „und so langsam verstehen die wissenschaftlichen Einrichtungen auch, dass das ein Gewinn für alle Seiten ist.“

Ob er aus seinem Intensiv-Hobby eine berufliche Perspektive entwickeln kann, ist dennoch unklar. Die Zusammenarbeit mit dem DAI ist befristet, danach wird Cyron sich nach neuen Partnern umsehen müssen. „Mein Traum“, sagt er, „wäre ja eine Stelle als Wikipedianer in Residence auf der Museumsinsel. Den Ort liebe ich seit meiner Kindheit.“

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