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Lesen soll endlich interaktiv werden. Eine ganze Branche träumt vom Durchbruch des Social Reading. ZEIT ONLINE. 14. März 2012

Aufgeregt sind sie alle. Die Gründer von Quote.fm genauso wie die von Readmill, der Unternehmenssprecher von Lovelybooks ebenso wie die Pressesprecherin von Amazon. Schließlich geht es um nichts weniger als eine Revolution. Die Revolution des Lesens. „Why make a book digital and not make it shareable?“ fragt die freundliche Frauenstimme im Imagefilm des Berliner Start-ups Readmill: Wieso sollte man Bücher digitalisieren und dabei nicht auch die Möglichkeiten der sozialen Vernetzung ausschöpfen? Lesen, so die frohe Botschaft, war die längste Zeit eine einsame, unkommunikative Tätigkeit. Jetzt wird es endlich ein großer, interaktiver Spaß.

Online über Bücher sprechen, das geht natürlich schon lange. Neu ist, dass das Kommunizieren dem Leseprozess nicht mehr nachgeordnet ist, sondern zeitgleich stattfinden kann: lesen, unterstreichen, kommentieren, empfehlen – das alles geht zunehmend ineinander über. Zwar ist das  kopiergeschützte, statische EPUB-Format noch längst nicht organisch mit dem Internet verschmolzen, aber immerhin: Die ersten Brücken sind geschlagen.

Im Detail sind die Partizipationsmöglichkeiten der einzelnen Anbieter verschieden, grob gesehen aber ähneln sich die Funktionen, mit denen viele E-Books mittlerweile entweder standardmäßig angereichert sind oder die sich als App hinzufügen lassen. Man kann Textstellen markieren und direkt aus dem Buch heraus verschicken, zum Beispiel über E-Mail, Facebook oder Twitter. Manche Anbieter ermöglichen den direkten Kontakt zum Autor, andere machen die Lieblingszitate vorheriger Leser sichtbar, wieder andere Plattformen bündeln Rezensionen und Bemerkungen zum jeweiligen Buch in einem Echtzeit-Stream.

Medienkonvergenz heißt der wissenschaftliche Fachbegriff für dieses Zusammenwachsen unterschiedlicher Medien; an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz gibt es dazu bereits einen Forschungsschwerpunkt. Dass die Social Reading Branche überhaupt derart blüht, sieht Dominique Pleimling, Mitarbeiter am dortigen Institut für Buchwissenschaft, „vor allem darin begründet, dass die Unternehmen Distinktionsmerkmale für ihre immer ähnlicher werdenden Geräte suchen“. Ein E-Book, mit dem man nichts anstellen kann außer es zu lesen, ist ein langweiliges E-Book.

Historisch gesehen ist das soziale Lesen gar nichts Neues. Im Gegenteil: Leises Rezipieren war bis 400 n.Chr. weitgehend unbekannt, noch Augustinus wunderte sich über einen stumm lesenden Zeitgenossen. Die großen Bibliotheken der Antike, so mutmaßt Alberto Manguel in „Eine Geschichte des Lesens“, könnten durchaus geräuschvolle Orte gewesen sein, erfüllt vom Gemurmel der sich selbst vorlesenden Gelehrten. Und bis ins späte Mittelalter blieb das (mit)teilenden Vorlesen gesellschaftlich sogar eher die Regel als die Ausnahme.

Dass Lesen mit Ruhe und Abgeschiedenheit gleichgesetzt wird, ist erst eine Erfindung der letzten Jahrhunderte. Seitdem gilt die private Beschäftigung mit dem Buch einerseits als vorbildlich, geradezu bildungsbürgerlich erwünscht. Andererseits umweht das Lesen stets auch ein Hauch von Rebellion und Subversion. Die in ihre Romanlektüre versunkene Frau des 18. Jahrhunderts zum Beispiel wird zum Sinnbild einer anrüchigen, fast emanzipatorischen Lesepraxis. Da entzieht sich jemand der Realität, flüchtet sich in Tagträume und Hirngespinste. „Hochmütig und abweisend“ wirke ein Lesender, schreibt Manguel, „man macht sich unerreichbar und unsichtbar für die Welt.“

Trotzdem ist der Rückzug ins Buch keineswegs Selbstzweck, sondern – auch das weiß die Leseforschung schon lange – notwendige Voraussetzung für den Genuss. Erst durch eine intensive Interaktion mit dem Text entfalten Humor oder Spannung ihre Wirkung, finden Prozesse der Einfühlung oder Identifikation statt. Selbst bei der Rezeption langer, schwieriger Texte fühlen sich viele Leser nachweislich gut unterhalten, auch der Kampf mit Komplexität macht offenbar glücklich.

Beim Social Reading tritt die bewusste Abschottung von Umwelt und Alltag dagegen in den Hintergrund. Sie kollidiert ohnehin mit den Kommunikationsgewohnheiten vieler Intensiv-Mediennutzer. Abgesehen davon fahren vor allem jüngere Leserinnen in Sachen Eskapismusbedürfnis längst zweigleisig: Sie kombinieren die Freude an der Fiktion mit der Nestwärme der Fan-Community. Vor allem aus Vampir- und Fantasy-Romanen heraus wird hingebungsvoll diskutiert und gepostet.

Nicht nur App-Entwicklern und Start-up-Gründern kommen diese Kommunikationsströme sehr gelegen. Auch die Marketingabteilungen der Verlage würden ihrer Kundschaft zukünftig liebend gern beim Zitieren und Empfehlen über die Schulter schauen. Der ökonomische Mehrwert liegt auf der Hand: Dem gläsernen Leser könnte man maßgeschneiderte Angebote machen, man könnte ihn einbeziehen und aushorchen, ihm vielleicht ganze Programmsparten auf den Leib schneidern. Das Social Reading, so Alexander Vieß, Redakteur beim Börsenverein des Deutschen Buchhandels, in einem Blogbeitrag, „bietet Möglichkeiten für all jene, die in der Lage und willens sind, jenseits der ausgetretenen Pfade der eigenen Geschäftsmodelle zu denken.“ Einzige Voraussetzung: die aufmerksame Auswertung von Lektüredaten.

Totalitäre Regime, schreibt Alberto Manguel, hätten das Lesen stets gefürchtet – weil es so schwer zu kontrollieren sei. Wird die aufkeimende technische Infrastruktur von Social Reading Funktionen dem Lesen diesen politischen Stachel ziehen? Oder ihn im Gegenteil in bestimmten Nischen der Öffentlichkeit sogar noch spitzer machen? Noch weiß das niemand. Buchwissenschaftler Pleimling hält es ohnehin für verfrüht, überhaupt von einer grundlegenden Veränderung der Kulturtechnik Lesen zu sprechen: „Ob sich langfristig eine hinreichende Zahl an Nutzern findet, die den Leseakt unterbricht und sich mit anderen Nutzern oder dem Autor austauschen will, ist schwer abzusehen.“

 

 

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