„WAS WIR IM ALLTAG VORLEBEN“

Warum verhalten sich kleine Mädchen und Jungen so verdammt vorhersehbar? Ein Gespräch mit Bettina Hannover, Professorin für Schul- und Unterrichtsforschung an der FU Berlin. BERLINER MORGENPOST. 28. JANUAR 2012. Viele Eltern versuchen, ihre Kinder gleich zu behandeln, aber dann entpuppen sich Mädchen und Jungen doch als total verschieden – die einen stehen auf rosa Feen, die anderen lieben Schwerter und Autos. Das kann doch nicht nur elterliche Einbildung sein, oder?

Kinder im Vorschulalter müssen herausfinden, was es überhaupt heißt, in unserer Gesellschaft männlich oder weiblich zu sein. Deshalb beobachten wir in dieser Altersgruppe besonders stark geschlechtstypisiertes Verhalten. Mädchen wollen also gerne so sein, wie sie denken, dass Mädchen sein sollten. Und das Gleiche gilt für Jungen.

Aber woher kriegt das Kind überhaupt seine klischeehaften Vorstellungen? Normale Eltern sehen doch auch nicht aus wie Ken und Barbie.

Wir wissen, dass Kinder sehr viel Energie darauf verwenden, ihre Erfahrungen zu systematisieren. Zum Beispiel: Worin unterscheiden sich Männer und Frauen, Mädchen und Jungen? Kinder machen meistens sehr früh in ihrem Leben die Erfahrung, dass es offenbar eine große Rolle spielt, zu welcher der beiden Geschlechtsgruppen man gehört. Sie beobachten bei den eigenen Eltern, dass möglicherweise nur der Vater zur Arbeit geht, während die Mutter typischerweise das Essen zubereitet. Sie sehen vielleicht, wenn sie mit den Eltern zusammen irgendwo hinfahren, dass die Mutter nur dann am Steuer sitzt, wenn der Vater nicht dabei ist. Das registrieren Kinder alles sehr genau – übrigens beobachten sie dabei Personen ihres eigenen Geschlechts sehr viel länger als Personen des anderen Geschlechts.

Senden die Eltern, vielleicht gar nicht absichtlich, subtile Botschaften an ihre Kinder aus? Zum Beispiel: „Du bist aber ein braves Mädchen!“ oder „Du bist doch ein tapferer Junge!“?

In den entwickelten Industrienationen gibt es eine weitgehende Angleichung in den Erziehungsstilen und -praktiken. Mit einer Ausnahme: Immer, wenn es darum geht, geschlechtstypisches Verhalten, das das Kind zeigt, zu bekräftigen oder zu bestrafen – da verhalten sich Eltern konventionell. Wenn also ein Junge Ballettunterricht nehmen will, dann wird er von den Eltern seltener darin unterstützt. Oder umgekehrt, wenn ein Mädchen sich gerne mit anderen Kindern rauft und balgt, dann machen sich die Eltern mehr Sorgen darüber, als wenn dieses Kind ein Junge ist.

Ihre geschlechtstypischen Vorlieben aus dem Kinderzimmer nehmen die Kinder auch mit in die Schule – was bedeutet das für den Schulalltag?

Wenn Kinder in die Schule kommen, sind sie noch in dieser Altersphase, wo sie sich sehr stark geschlechtsorientiert verhalten.  Und Kinder, die diese Geschlechtsrollen verletzen, werden oft ausgestoßen. Mit einem Mädchen, das gerne Fußball spielt, will kein anderes Mädchen befreundet sein. Ein Junge, der am liebsten mit den Mädchen in der Leseecke sitzt, wird von den anderen Jungs bespöttelt. Die gute Nachricht ist aber, dass Kinder im Laufe der Grundschulzeit zunehmend ein Verständnis davon entwickeln, dass man sein eigenes Geschlecht nicht verliert, auch wenn man sich mal jenseits der Geschlechternormen bewegt.

Bis es soweit ist, dass die Kinder von selbst wieder offener und toleranter werden, wie sollen Eltern sich verhalten? Jede Glitzer- oder Ritterphase klaglos mitmachen – oder doch versuchen gegenzusteuern?

Ich denke, Eltern müssen sich vor allem die Frage stellen, was sie selbst ihren Kindern jeden Tag vorleben. Kinder lernen ganz stark an Modellen. Und wir alle verhalten uns ja geschlechtstypisiert. Eltern sollten also genau hinschauen, ob denn in ihrem eigenen Umfeld tatsächlich Geschlechterfairness gilt. Natürlich sollte man den Willen des Kindes nicht brechen. Besser ist es, als Modellperson alternative Verhaltensmöglichkeiten aufzeigen. Zum Beispiel indem die Mutter den Bilderrahmen an die Wand montiert, anstatt das an den Vater zu delegieren! Oder indem der Vater mit dem Kind die Plätzchen backt oder die Hose mit der Nähmaschine flickt! So kann man den Einfluss von Geschlechtsstereotypen, dem die Kinder durch Medien und Gleichaltrige eh permanent ausgesetzt sind, zumindest abschwächen.

Comments are closed.