FRANKREICH FÜHLEN

Sprachen lernen, das bedeutet für Schüler vor allem Vokaltests und Klassenarbeiten. Dabei geht es doch auch um Kultur und Lebensgefühl. Und wo könnte man das besser erleben als – à Paris! BERLINER MORGENPOST. 21. Januar 2012.

Auf den ersten Blick ist die Ausbeute ist mager. Drei Tage, drei Sätze: Ich möchte bitte ein Baguette mit Hühnchen. Haben Sie auch Wasser mit Gas? Ich verstehe Sie nicht. Mehr hat meine Tochter in drei Tagen Paris nicht über die Lippen gebracht. Dabei hatte ich ihr vorher vollmundig angedroht: Aber wenn wir dort sind, bestellst du die Getränke, fragst du nach der Rechnung, sprichst du mit den Ticketverkäufern. So ganz aufgegangen ist der Plan nicht.

Trotzdem war die Reise das pädagogisch Auf- und Anregendste, was wir – meine 12-jährige Tochter und ich – seit langem gemacht haben. Seit zweieinhalb Jahren besucht sie eines der wenigen Berliner Gymnasien, bei denen man schon ab der 5. Klasse Französisch lernen kann. Seitdem hat sie Frankreich vor allem anhand ihres Lehrbuchs kennengelernt: Es gab ein Kapitel über die Pariser Sehenswürdigkeiten, eins über einen Umzug von Paris nach Toulouse, einmal gehen die Jugendlichen im Buch shoppen im Einkaufszentrum Forum Les Halles, ein anderes Mal verschlägt es sie in ein Museum im Pariser Umland.

Bislang war das vor allem tote Materie, der Stoff, aus dem Klassenarbeiten und Vokabeltests sind. Jetzt stehen wir auf einmal auf dem Flughafen Orly – und Frankreich ist fantastisch real. „Da, Sortie, der Ausgang!“, sagt die Tochter. „Nein, du musst nach RER gucken, so heißt hier die S-Bahn!“, sagt die Mutter, die im Flieger schon vorsorglich ein bisschen im Reiseführer geblättert hatte.

Die RER ist schnell gefunden, aber da wartet schon die nächste Hürde. Der Fahrkartenautomat. Das Kind tippt munter darauf herum, 10 Euro irgendwas kostet die Fahrt ins Zentrum, behauptet sie dann. „Bist du sicher?“ – Ich vertraue ihr und dem Automaten nicht so recht, stelle mich lieber doch mit den anderen doofen Touristen in die Kassenschlange und frage stotternd, halb auf Englisch, halb auf Französisch, nach zwei Fahrkarten. Und siehe da: „Siehst du, Mama, hab ich doch gesagt, 10 Euro.“

Beflügelt von diesem ersten Erfolg schaltet meine Tochter nun endgültig auf Entdeckermodus. Auf der Fahrt in die Innenstadt wird alles gemustert, studiert, mitgelesen, was unseren Weg kreuzt. „Da, guck mal, das Kinoplakat: Le Chat Potté, der gestiefelte Kater.“ Ach nee, das hätte ich auch gerade noch erraten. Zu Hochform läuft sie auf, als wir mitten im Zentrum in Les Halles aussteigen. Der riesige unterirdische Métro-Bahnhof ist einer der größten Verkehrsknotenpunkte von Paris, 250.000 Menschen steigen hier täglich aus und um, sagt der Reiseführer. Während ich in dem Labyrinth der Gänge irgendwann gänzlich die Orientierung verloren habe, rennt meine Tochter fröhlich von Hinweisschild zu Hinweisschild. Rauf auf das Laufband, runter vom Laufband, Treppen hoch, Treppen runter. „Mama, hier entlang!“

Das Tempo der ersten Stunden wird sie natürlich nicht lang halten können. Nach zwei Tagen Stadtrundgang tun dem Nachwuchs die Füße weh, außerdem sind die Hände kalt und die Augenlider schwer. Richtig Ausdauer für anstrengende Kultururlaube hat man in diesem Alter einfach noch nicht. Abgesehen davon schlafen wir in den französischen Betten auch wirklich schlecht: Dauernd verrutschen die Laken und Wolldecken, die ja ohnehin nur lose aufeinander liegen. Wer hat sich denn dieses blöde Patent ausgedacht, fluchen wir beide jeden Morgen. Aber das gehört eben auch zu einem echten Parisaufenthalt. Dass man mal weiß, wie sich ein französisches Bett anfühlt.

Und natürlich auch, wie ein echtes französisches Frühstück schmeckt. Und es schmeckt – délicieux! In unserem kleinen Hotel sind wir jetzt in der Nebensaison fast die einzigen Gäste, morgens werden extra für uns ein Baguette und zwei Croissants in der Boulangerie nebenan gekauft. Dazu gibt es einen großen Milchkaffee für Mama und einen heißen Kakao fürs Kind. „Und wo ist der Teller?“, fragt meine Tochter. Teller benutzen die morgens nicht, erkläre ich ihr, die Franzosen essen (und krümeln) über ihren Kaffeetassen, oder tunken das Baguette mit Butter und Marmelade sogar noch rein. Meiner Tochter ist das dann doch ein Spur zu eklig. Aber Baguettes und Croissants finden wir trotzdem sensationell. Niemals, schwören wir uns gegenseitig, haben wir in Berlin sowas Köstliches gegessen.

Die Welle der Neugier und Begeisterung trägt uns auch durch die Stadt. Und macht aus meiner Tochter, sonst eher Typ mürrischer Spaziergang-Verweigerer, eine Vollblut-Touristin. Seit der Ankunft hat sie die Herrschaft über die Kamera übernommen – und jagt jetzt eifrig schönen Motiven nach. Davon gibt es haufenweise. Hier eine Kirche, dort ein imposanter Palast, da ein großer Platz. Ich blättere derweil abwechselnd im Reiseführer und im Stadtplan und werfe hin und wieder Fakten und Anekdoten ein. „Die Pont Neuf, die heißt zwar neue Brücke, ist aber die älteste von Paris.Und es gibt übrigens auch einen ganz berühmten Film, Die Liebenden von Pont-Neuf, den müssen wir mal gucken, wenn wir wieder zuhause sind.“

Unsere Ziele sind alles andere als originell. Wir klappern die Standards ab: Notre-Dame, Sacré-Cœur, Arc de Triomphe, Louvre, Tuilerien, Place de la Concorde, Champs-Elysées und so weiter. Vor jeder Sehenswürdigkeit werden die obligatorischen Wir-waren-hier-Beweisfotos gemacht. Beim Eiffelturm haben wir besonders viel Glück, die Schlange ist kurz, nur 30 Minuten Wartezeit, dann können wir bei strahlendem Sonnenschein den Blick über Paris genießen. Vorher und hinterher unterhalte ich meine Tochter mit Geschichten aus der turbulenten Bauzeit vor rund 120 Jahren, als viele Pariser Künstler und Intellektuelle sich mit Händen und Füßen gegen den Turm gewehrt haben. „Manche haben sogar damit gedroht auszuwandern, wenn Herr Eiffel es wirklich wagen würde, mit diesem sinnlosen Ding ihre schöne Stadt zu verschandeln.“

Richtig in Fahrt komme ich dann am nächsten Tag im Louvre. Die Mona Lisa heißt nämlich auf Französisch gar nicht Mona Lisa, erkläre ich ihr, wenn überhaupt, dann „Monna Lisa“, eigentlich aber „La Joconde“. Und auch das ist historisch falsch, denn sie war ja gebürtige Italienerin, Lisa Gherardini, verheiratet mit einem gewissen Herrn Giocondo. Die unverbesserlichen Franzosen haben daraus einfach „La Joconde“ gemacht. „Und weißt du, warum sie so berühmt ist? Weil sie dich immer anguckt, egal ob du rechts, links oder mittig vor dem Bild stehst!“ Meine Tochter findet das alles so interessant und lustig wie sonst nur ihre amerikanischen Lieblingsfernsehserien. Und ich bin stolz, dass ich offenbar nicht die schlechteste alle mütterlichen Reiseführerinnen bin.

Natürlich erfinden wir das Rad des Tourismus nicht neu. Und natürlich könnte man das alles auch bei Wikipedia nachlesen. Aber darum geht es nicht. Wir sind da, wir sehen es in echt, wir können Frankreich fühlen, schmecken, anfassen. Weitere Höhepunkte unseres Wochenendes sind deshalb nicht nur die abendlichen Restaurantbesuche, sondern vor allem die Einkäufe im Supermarkt. Jedes Mal müssen wir das kleine Taschenlexikon zücken: Was heißt „raifort“? Aha, Meerrettich! Und hier, was soll das sein, „sablés“? Sable heißt Sand, also vielleicht Sandkekse? Dafür, dass meine Tochter sonst bei jedem unbekannten Wort am liebsten Google Translate anschmeißt, reimt sie sich hier schon nach zwei Tagen ziemlich geschickt die Wortbedeutungen zusammen.

Überhaupt benehmen wir uns nach kaum 48 Stunden wie alte Frankreich-Hasen. Wir kennen uns ja jetzt aus, mit der Métro und der RER, mit dem Baguette und der Monna Lisa, mit der Pont Neuf und der Notre-Dame. Und falls du irgendwann vielleicht mal hier studieren willst, sage ich auf dem Rückweg zum Flughafen zu meiner Tochter, dann würde ich dich auf jeden Fall sehr oft besuchen kommen. Versprochen! Meine Tochter schweigt. Das Studium ist noch lange hin. Aber für ihre Liebe zu Frankreich haben wir jetzt auf jeden Fall einen soliden Grundstein gelegt. Da bin ich sicher.

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