HEIMAT DER TRAURIGEN

Trauer war lange ein stummes Gefühl. Im Internet haben Betroffene wieder zur Sprache gefunden. TAGESSPIEGEL und ZEIT ONLINE. 31. Oktober 2011. 

Eigentlich wollte Katrin Gebert ihre Doktorarbeit über moderne Bestattungsrituale schreiben, über die individuelle Ausrichtung von Trauerfeiern oder besondere letzte Ruhestätten. Doch die junge Ethnologin aus München hatte ein Problem: Niemand wollte mit ihr reden. Die Bestatter nicht, die Angehörigen schon gar nicht. Egal, wo sie hinkam, egal, wie einfühlsam sie vorging, weit und breit nur bedrücktes Schweigen.

In der westlichen Zivilisation werde der Tod verdrängt und tabuisiert, lautet eine bekannte These der Kulturtheorie. Sie ist so nicht ganz korrekt. Denn der Tod ist, medial gesehen, allgegenwärtig: Er dominiert die täglichen Weltnachrichten, Katastrophen-, Unfall- und Kriegsmeldungen kreisen fast ausschließlich um die Zahl von Toten. Parallel dazu befeuern anrührende Krankheits- und Sterbegeschichten den Boulevardjournalismus. Und auch in der Unterhaltungsbranche nimmt der Tod eine zentrale Rolle ein, nicht nur in Gestalt der sonntäglichen Tatort-Leiche. Trotzdem fällt das Sprechen über einen persönlichen Verlust schwer. „Es besteht ein unübersehbares Defizit in unserer Gesellschaft, Tod, Sterben und Trauer öffentlich ausdrücken zu können“, schreibt Gebert in ihrem Buch „Carina unvergessen“ (Tectum Verlag). Hinterbliebene leiden stumm und im Verborgenen, Freunde und Bekannte winden sich, um passende Worte zu finden.

Überall ist das so, außer – im Netz. Genau dort fand die Wissenschaftlerin schließlich, was sie gesucht hatte: Schilderungen von Sterbesituationen, ausführliche Begräbnisbeschreibungen, detaillierte Trauertagebücher, überquellende Kondolenzbücher. Das Medium hat sich zu einer Heimat der Traurigen entwickelt. „Die persönliche Konfrontation mit Beileidsbekundungen möchte man vermeiden, sehnt sich aber zugleich nach Anteilnahme und Austausch. All das bietet das Internet.“ Und so änderte die 33-Jährige kurzerhand ihr Forschungsvorhaben und beschloss, den Trauernden zu folgen, auf die zahlreichen virtuellen Gedenkseiten und Friedhöfe. Dahin, wo die Worte, wenn sie einmal sprudeln, gar nicht mehr aufhören wollen.

Das erste, was ihr auffiel: Längst nicht um alle Verstorbenen wird im Netz ein aufwändiger Erinnerungskult betrieben. Gerade bei älteren Menschen beschränken sich die Informationen, die Angehörige zum Beispiel auf www.trauer.de veröffentlichen, auf eine kurze Todesanzeige, ähnlich wie die in der Tageszeitung. Anders, wenn der Tod plötzlich und viel zu früh kommt: Wenn Kinder, Jugendliche oder junge Erwachsene sterben, schlägt sich die Fassungslosigkeit der Familien oft in sehr ausführlichen Gedenkseiten nieder. Und meist sind es die Eltern, die solche Seiten initiieren: Von den 100 persönlichen Totengedenkseiten, die Gebert genauer untersucht hat, waren über 80 von Müttern und Vätern eingerichtet worden, nur wenige von Geschwistern oder Freunden.

Über das Portal www.kat-gedenkseiten.de sind viele solcher Erinnerungsseiten zu erreichen. Und man sieht den Webseiten an, dass sie selbstgemacht sind: Überall flackern virtuelle Kerzen, die Bilder der Verstorbenen sind freigestellt, mit Photoshop bearbeitet oder mit animierten Blumen- oder Engelsbildern verziert. Mit dem übersichtlichen Einheitslook eines Facebook-Profils hat das wenig zu tun. Es geht, das ahnt selbst der unbeteiligte Betrachter, auch um den Gestaltungsakt selbst, um das liebevolle und individuelle Arrangement von Bildern und Texten. Viele Eltern, fand Gebert heraus, tasten sich erst nach einem Schicksalsschlag überhaupt an das Internet oder an den Computer heran, manche lernen sogar programmieren, um die Seiten für ihre Kinder nach Wunsch verändern und aktualisieren zu können.

Einige Kulturwissenschaftler sehen darin bereits einen Bedeutungsverlust des realen Friedhofs. Thomas Macho, Professor an der Berliner Humboldt Universität, prognostizierte schon vor einigen Jahren: „Offenbar brauchen die Toten keine ausgegrenzten Knochenresidenzen mehr. Der prototypische Friedhof der Gegenwart ist der Friedhof ohne die Toten: der virtuelle Friedhof, der sich exemplarisch im Internet auszubreiten beginnt.“ Nach dreijähriger Forschung widerspricht Gebert dieser These: Sie fand nirgendwo im Netz den Hinweis, dass der reale Bestattungsort für die Angehörigen nebensächlich wird. Eher ergänzen sich die beiden Gedenkorte. Manche Eltern fotografieren sogar regelmäßig den Grabstein und stellen die Bilder dann wiederum ins Netz.

Es geht offenbar nicht in erster Linie um eine Verlagerung der Trauer aus dem realen Raum in die „Ortlosigkeit der Datenströme“, wie Macho andeutet. Sondern eher um eine Rückkehr zum Wort – und in den Schoß des Kollektivs. Die Kirchen sind dabei selten die erste Anlaufstelle. Die katholische Kirche hat auf katholisch.de gar keinen interaktiven Bereich; auf evangelisch.de wurde erst 2009 ein kleines Trauerforum installiert. In den Jahren davor waren es vor allem Bestattungsunternehmen, die Pionierarbeit leisteten und Gesprächsforen ins Netz stellten. Die Kundschaft nahm das Angebot dankbar an.

Und so sind ausgerechnet beim hyper-intimen Thema Trauer die Grenzen zwischen Privatheit und Öffentlichkeit längst durchlässig geworden. Niemanden scheint das zu stören, im Gegenteil. Das ausführliche Beschreiben des eigenen Schmerzes wird von den Betroffenen als wohltuend empfunden. Nicht, weil man nach Aufmerksamkeit heischt, sondern weil man ein therapeutisches Ventil sucht. Weil man Zeugnis ablegen will – manchmal auch Schuld zuweisen. Das Netz bietet Raum für all diese narrativen Aneignungen des Schicksalsschlags. Es funktioniert sogar als imaginäres Gegenüber: Viele Angehörige schreiben Briefe oder Nachrichten an die Verstorbenen, oft mit direkter Anrede.

Und die digitale Echokammer antwortet auch. Denn die meisten Erinnerungsseiten stehen nicht für sich allein, sondern sind über ein komplexes Link-Netzwerk miteinander verknüpft. Die Angehörigen können sich so als Teil einer großen Leidensgemeinschaft fühlen. In unzähligen Selbsthilfeforen – wie bei www.sternenkinder.de – sprechen sie sich gegenseitig Mut zu, besuchen die jeweiligen Gedenkseiten der anderen, hinterlassen warme Worte in fremden Gästebüchern. Dass sie selbst Betroffene sind, geben die Kommentatoren dabei schon durch ihre Signatur zu erkennen: „Elke und Jan mit Laura tief im Herzen“.

Generell ist der Ton fast ausschließlich behutsam und pietätvoll, selbst dort, wo Anonymität herrscht. Vermutlich auch, weil das Medium eher noch gefühlsverstärkend wirkt: Alleine lesend an einem  Bildschirm fällt die Distanzierung ausnehmend schwer. Trotzdem kann sich der Besucher den Eindrücken natürlich auch schnell wieder entziehen, kann weiterklicken, wenn’s nicht mehr auszuhalten ist. Auch das kennzeichnet das gemeinschaftliche Trauern im Netz: Die tränenüberströmende Einfühlung geht einher mit einer steten Wahrung des räumlichen Sicherheitsabstandes.

Die Kulturanthropologin Ira Spieker, die sich schon seit den späten 1990er Jahren mit digitalen Erinnerungsstätten beschäftigt, sieht den Boom der Gedenkseiten und Betroffenenforen deshalb nicht nur positiv. „Die ständige Beschäftigung mit dem Thema kann auch kontraproduktiv sein.“ Die Trauer der Angehörigen kommt möglicherweise langsamer zum Abschluss; das Loslassen wird erschwert, wenn einer Webseite immer wieder neue Inhalte hinzugefügt werden können.

Für Kollegin Gebert überwiegen dennoch die tröstenden Aspekte der neuen Kulturtechnik, „gerade bei einem Phänomen, dass in unserer Gesellschaft keine Ausdrucksmöglichkeit gefunden hat: der Langzeittrauer.“ Wer Jahre oder Jahrzehnte nach einem Todesfall von seiner unmittelbaren Umgebung kaum noch Verständnis erfährt, kann sich nun wenigstens ins Netz flüchten. In die virtuellen Umarmungen anderer Untröstlicher.

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