„WIR SIND 53 PROZENT“

Während die Occupy-Demonstrationen auf den Straßen abebben, wird die Schlacht im Netz weitergeführt – auf amerikanischen Blogs, die sich gegenseitig persiflieren. ZEIT ONLINE. 28. Oktober 2011 

Eine junge Frau mit ernstem Gesichtsausdruck hält einen Zettel vor ihr Gesicht: „Mein Freund findet keine Arbeit und es kostet mich große Mühe uns beide finanziell durchzubringen“, steht darauf. Auf dem nächsten Foto ist ein junger Mann zu sehen, auch er hält ein Blatt Papier hoch: „Ich musste die Uni verlassen, um meine blinde Mutter zu versorgen. Wegen medizinischer Kosten habe ich 35.000 Dollar Schulden.“

Es sind zwei von über zweitausend persönlichen Bekenntnissen, die in den letzten Wochen im Internet (LINK: http://wearethe99percent.tumblr.com) veröffentlicht wurden; der Blog, auf dem sie stehen, ist ein Ableger der globalen Protestbewegung, die ansonsten unter dem Label OccupyWallSt.org  und Occupytogether.org auftritt. Doch während die Straßendemonstrationen abebben, haben die Zettel im Netz eine mediale Eigendynamik entwickelt. Was natürlich auch an ihrem privat-anekdotischem Ansatz liegt: Da geben Menschen der Wirtschaftskrise ein Gesicht, da werden gesellschaftliche Missstände an traurigen Einzelfällen sichtbar: In vielen Geschichten ist von absurd teuren Krankenversicherungen die Rede, von bedrückender Langzeitarbeitslosigkeit, von Schulden und Perspektivlosigkeit. Und immer enden die Briefe mit dem mahnenden Ausruf: „Wir sind die 99 Prozent!“

Als geistiger Vater des Schlachtrufs wird der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph E. Stiglitz gehandelt, er hatte im Mai 2011 in seinem Artikel „Of the 1%, by the 1%, for the 1%“ in der Vanity Fair die wachsende Kluft zwischen Ober- und Mittelschicht heftig kritisiert. Ein Prozent der amerikanischen Bevölkerung, so seine Kernaussage, verfügen über 40% des gesamten nationalen Reichtums. Außerdem seien die  Spitzeneinkommen in den vergangenen Jahren um durchschnittlich 18% gestiegen.

Grund genug, höhere Steuersätze zu fordern, findet deshalb eine andere Bloggerfraktion. „Wir sind die 1%, aber wir stehen zusammen mit den 99%“ (westandwiththe99percent.tumblr.com/) heißt die Seite, die junge Wohlhabende im Rahmen der Initiativen „Resource Generation“ und „Wealth for the Common Good“ initiiert haben. Seit Monaten bemühen sich die beiden Organisationen, eine öffentliche Kampagne für höhere Vermögenssteuern loszutreten. Der Erfolg des 99%-Blogs bot nun eine willkommene Gelegenheit, sympathisierend auf den Zug aufzuspringen. Ein Mann namens James Schaffer war Mitte Oktober der erste, der hier seinen Zettel hob: „Ich habe Geld geerbt. Ich habe viel mehr, als ich brauche. Besteuert mich!“ Mittlerweile sind über hundert Gleichgesinnte seinem Beispiel gefolgt.

Nur Weicheier schreien nach dem Staat, außerdem nerve der selbstmitleidige Klageton, meinen dagegen Amerikas Konservative. Angesehen davon fühlen sie sich von der 99+1% Rechnung der Demonstranten diskreditiert: „Wir sind 53%“, behauptet seit Anfang Oktober ein weiterer Blog (http://the53.tumblr.com/); die Zahl bezieht sich auf den Teil der Bevölkerung, der Einkommenssteuern zahlt. Die Webseite ist der der ideologischen Konkurrenz optisch exakt nachempfunden, nur die einleitenden Worte sind andere: „Wir sind diejenigen, die für diejenigen zahlen, die über dieses und jenes und was auch immer rumjammern…“  Ansonsten werden auch hier Zettel geschrieben und hochgehalten, knapp 400 Menschen haben schon mitgemacht. Der Tenor ist deutlich: Uns wurde auch nichts geschenkt, aber wir meistern unser Leben und zahlen klaglos unsere Abgaben. „Ich arbeite mir den Arsch ab für das Wohlergehen anderer“, schreibt eine Studentin und ergänzt pathetisch: „Ich lebe meinen Traum. Ich bin 53%.“

So viel Glaube, Liebe und Patriotismus – das schreit nach Satire. Auf der Seite „Eigentlich gehörst du doch zu den 47%“ (actuallyyourethe47percent.tumblr.com) kommentieren die angeblichen Nicht-Steuerzahler hämisch die kümmerlichen Erfolgsgeschichten der vermeintlichen 53-Prozentler: „Krebskrank und trotzdem immer noch 12 Stunden am Tag malochen gehen – toller amerikanischer Traum!“ Auf dem Blog „Wir sind die 1%“ (http://wearethe1percent.tumblr.com/) verkünden derweil mächtige Männer ihre zynische Sicht der Dinge: „Wir haben mehr Geld als man in vier Leben ausgeben kann.“ Die Einträge enden stets mit einem launigen Reim: „We are the 1%. We Occupy your Government.“ Die Seite ist natürlich komplett gefakt. Genauso wie die beiden Investmentbanker, die auf  http://www.occupyoccupywallstreet.org ihr fröhliches Lebensmotto kundtun: „Wir sind 1%, aber 100% stolz.“

Während aus den Bekenntnissen der 99% so mittlerweile ein Running Gag des Internets (http://i.imgur.com/3Qmak.jpg) geworden ist, kann zumindest einer sich freuen: David Karp. Denn die Plattform, auf der sowohl Linke als auch Rechte derzeit leidenschaftlich bloggen, heißt Tumblr, der damals 20-jährigen Karp hat sie vor vier Jahre gegründet. Der Jungunternehmer wird wohl nie in die Verlegenheit kommen wird, einen Zettel vor sein Gesicht halten müssen: Nach Schätzungen des Wall Street Journal ist sein Start up mittlerweile rund 800 Millionen Dollar wert.

 

 

Comments are closed.