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Was denn nun – mobilisiert das Internet die politische Öffentlichkeit, ja oder nein? Vielleicht ist schon die Frage falsch gestellt. CICERO Online. 4. Oktober 2011

Man würde ihnen eigentlich zutrauen, dass sie wissen, wie es geht. Dass sie ihre Kanäle beherrschen, ihre Vernetzungshausaufgaben gemacht haben, ihre viralen Strategien überschauen. Dass sie dann nur noch auf ihren Blogs und auf Facebook und Twitter mit den Fingern schnippen brauchen und schon sind die erforderlichen Unterstützer für eine Online-Petition beisammen. Aber – so war es nicht. Knapp drei Wochen lang dümpelte die aktuelle Petition des AK Vorratsdatenspeicherung, die sich natürlich gegen die selbige richtet, bei deutlich unter 50.000 Unterschriften. Bis sich vor zwei Wochen schließlich Netz- und Fernsehpromi Sascha Lobo erbarmte und seine Fans bei Google+ und Spiegel Online eindringlich um Mithilfe bat. Binnen weniger Stunden kamen 11.000 weitere Unterzeichner dazu. Seitdem stagnieren die Zahlen wieder.

Die Partizipationslust des Volkes gibt Rätsel auf. Und die Rolle, die das Internet dabei spielt, erst recht. Wie funktioniert politische Mobilisierung im Netz? Was bewegt die Massen und wann bewegen sie sich selbst? Welches Thema taugt zum großen gesellschaftlichen Aufreger, welches verpufft kurz nach Drücken des Gefällt-mir-Buttons? Warum hatte Karl-Theodor zu Guttenberg im Frühling bei Facebook mehr als eine halbe Millionen Fürsprecher, aber auf die Straße ging dann doch niemand wegen ihm? Und warum gelang letztes Jahr ausgerechnet den Hebammen, also den Frauen mit dem wahrscheinlich analogsten Beruf der Welt, was der Netzcommunity nun gerade nicht gelingt will – nämlich mehr als 100.000 Bürger für die Unterstützung ihres Anliegens zu gewinnen?

Die journalistischen Antworten auf solche Fragen schwanken stets zwischen zwei Extremen, meist spielt die mediale Sozialisierung des Kommentators eine entscheidende Rolle: Das Netz kann alles! Das Netz kann nichts! Oder: Facebook und Twitter haben die arabischen Revolutionen erst… ach was, total überschätzt, es war vor allem das Fernsehen, Al Jazeera!

Einen differenzierteren Blick versucht mittlerweile die Wissenschaft: Seit April 2011 fördert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) das breit angelegte Projekt „Politische Kommunikation in der Online-Welt“. An sieben Universitäten wird seitdem an Aspekten des Themas geforscht, untersucht wird z.B. der Einfluss von Blognutzung auf die Wahrnehmung der öffentlichen Meinung oder die Auswirkung digitaler Wissensklüfte auf die politische Informationsvermittlung. Bis valide Theoriegerüste fertig sind, können allerdings noch einige Jahre vergehen. Zeit, in der die Mediengesellschaft womöglich schon wieder neue Purzelbäume geschlagen hat.

Bleibt also vorerst nur die beobachtende Annäherung. Dabei könnte ausgerechnet der Boulevardjournalismus einen wichtigen Hinweis geben. Facebook sei schuld, heißt es da neuerdings, wenn Schüler ihre Partys aus Versehen zu öffentlichen Veranstaltungen erklären – und anschließend tausende nichtgeladener Gäste den Rasen zertrampeln und in die Einfahrt pinkeln. Das ist aber nur die halbe Wahrheit. Die Ganze geht wohl eher so: Das Netz allein gebiert selten Massenbewegungen. In der Regel braucht es das Zusammenspiel aller Medien, es braucht die Vor- und Zurückspiegelungen in der Berichterstattung, die sich gegenseitig verstärkenden Aufmerksamkeitsströme, auch die vorauseilende Beschwörung des drohenden Chaos… kurz: Unterhaltung gepaart mit Übertreibung und Häme. Erst wenn RTL und BILD dreimal genüsslich berichtet haben, hat ein Kindergeburtstag in der Provinz wirklich das Zeug zum Großevent.

Übertragen auf politische Themen heißt das: Wenn aus der Facebook-Fangruppe ein Leitartikel geworden ist oder aus der Online-Petition ein Interview in den Tagesthemen, werden auch breitere Bevölkerungsschichten aufmerksam. Und erst dann besteht die Chance, dass ein Thema zu einem medialen Selbstläufer wird, dass Ereignisse sich zu überschlagen beginnen, dass dadurch wiederum Nachrichtennachschub generiert wird. Bis der Funke schließlich überspringt.

Der berühmte Funke also. Vor einem Jahr, als die Bundesregierung zusammen mit den Energieanbietern die Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke beschlossen hatte, zündete er mal wieder. Hunderttausende klebten „Atomkraft-Nein-Danke“-Aufkleber an ihre Kinderwagen, fuhren ins Wendland, demonstrierten in der Hauptstadt. Von der Macht des Internets sprach niemand. Aber viele sprachen verächtlich über Hinterzimmer-Lobbyismus. Und über die Arroganz der politischen Elite, die es wagt, einen vor Jahren unter großen Mühen gefundenen gesellschaftlichen Konsens zu kippen.

Am heißen Herbst 2010 lässt sich ablesen, wie die narrative Struktur eines Mobilisierungsklassikers aussieht. Es ist nicht allein die Angst, auch nicht die spontane Ablehnung eines Gesetzesentwurfs. Unterschiedliche Ebenen der Identifizierung und Empörung müssen zusammenspielen. Und: Es muss ein konkretes Ereignis geben, das dann wiederum zu einem Sinnbild wird. Hier die einzelne Tat, für sich genommen schon schändlich, aber dort, noch viel düsterer, die größeren Zusammenhänge, die Metaerzählung. Sie handelt meist vom desaströsen Zustand der Politik, der Demokratie, der Welt insgesamt und überhaupt.

Ein echter „Skandal“ ist immer tiefgründig und mehrschichtig, an der Oberfläche bleibt er trotzdem plastisch. Nur so provoziert er den Dialog, den Buschfunk, die Mundpropaganda. Bestenfalls gedeiht die Debatte dann im Kleinen wie im Großen, sie bahnt sich ihren Weg durch die Wohnzimmer und Teeküchen bis hinein in die sozialen Netzwerke und auf die Titelseiten der Zeitungen und Nachrichtenportale. Der Volkskörper beginnt zu rumoren, das gesamte Umfeld wird zum Resonanzboden. Zuletzt konnte man das beim Berliner Wassertisch beobachten, einer kleinen Bürgerinitiative, die auf einem ebenso mühsamen wie papiernen Weg einen Volksentscheid erzwang und gewann.

Den Gegnern der Vorratsdatenspeicherung wird das kaum ein Trost sein. Sie haben das gleiche Problem wie die Verfechter der Netzneutralität: theoretisch gute Anliegen und wichtige Argumente, aber praktisch keine konkreten Aufhänger, keine akute David-gegen-Goliath-Geschichte. Die aber braucht es, damit der politische Bürger aus seinem Dornröschenschlaf erwacht. Wenn er mal wach ist, dann geht er auf die Straße, dann nimmt er technische Hürden in Kauf, dann unterschreibt und wählt er. Und natürlich nutzt er rund um diese Aktivitäten auch das Internet. Wie er vor 25 Jahren vielleicht das Fax benutzt hätte. Oder vor 80 Jahren das Flugblatt. Nur sind es dann nicht die Medien, die irgendwen zu irgendwas mobilisieren. Es sind die Menschen, die sich der vorhandenen Kanäle bemächtigen. Das ist ein großer Unterschied.

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