VERMEHRT EUCH

Der Buchmarkt kränkelt, aber Agitprop-Broschüren boomen. TAGESSPIEGEL. 14. Juli 2011.

Es gibt Filme, die sieht man, sie gefallen einem, man schnieft sogar drei Tränchen weg. Wenn das Licht wieder angeht, fühlt man sich erhellt und geläutert. Und nach drei Stunden hat man vergessen, worum es ging. So ähnlich ist es auch mit „Empört euch!“. Der vor wenigen Monaten erschienene Text des greisen französischen Widerstandskämpfers Stéphane Hessel taugt als universeller Demonstranten-Schlachtruf – und liest sich praktischerweise in einer knappen Stunde weg. Diese Mischung scheint gut anzukommen bei der Zielgruppe, schon jetzt hat sich das Pamphlet allein in Deutschland 400.000 Mal verkauft. Grund genug für den Ullstein Verlag aus dem Essay umgehend eine Essayreihe zu machen.

„Vernetzt euch!“ heißt der gerade erschienene Band zwei, im gleichen Layout gehalten. Diesmal spricht kein alter Mann, sondern eine junge Frau, „die mutigste Bloggerin der Welt“, wie der Verlag in seiner Ankündigung schreibt. Lina Ben Mhenni ist 27 Jahre alt, arbeitet an der Universität Tunis und hat die Jasminrevolution im Januar 2011 nicht nur hautnah erlebt, sondern an vielen Kundgebungen aktiv mitgewirkt. Auch indem sie unentwegt Aufrufe, Videos und Augenzeugenberichte im Internet veröffentlichte.

Die Ereignisse dieser Tage schildert sie nun auf knapp 40 Seiten. Aber was ein berührender, subjektiver Bericht sein könnte, ist leider nur ein holpriger Schulaufsatz geworden. Einzig die Blogeinträge, die Ben Mhenni damals geschrieben hat und zum Teil im Buch zitiert, lassen etwas von der Wut, dem Kampfgeist und, ja, auch dem Pathos der Demonstranten erahnen. In der Nacherzählung dagegen reihen sich phrasenhafte Beschreibungen an seltsame Selbstreflexionen: „Den Rest der Zeit sammelten wir Informationen und schrieben pausenlos. Darüber vergaß ich mich selbst, hörte auf mich zu schminken, mir die Augenbrauen zu zupfen. Zum Glück waren die Nachbarinnen zur Stelle, um sich um unser Aussehen und Wohlergehen zu kümmern.“

Um stilistischen Feinschliff geht es bei solchen verlegerischen Schnellschüssen natürlich auch nicht. Eher um die plakative Botschaft. Die der tunesischen Bloggerin ist klar: Twitter half, die Massen zu mobilisieren, das „besonders magische“ Netzwerk Facebook diente der Opposition als Schaltzentrale. Soweit, so bekannt. Die politischen Visionen der jungen Frau bleiben dagegen vage. Irgendwie eine „herrschaftsfreie Welt“ – und natürlich freier Zugang zum Internet.

Mit den Forderungen von Bestsellerautor Hessel deckt sich das übrigens kaum. Im Gegenteil, er ruft im letzten Absatz von „Empört euch!“ sogar ausdrücklich zu einem Aufstand gegen „die Massenkommunikationsmittel“ auf, „die unserer Jugend keine andere Perspektive bieten als den Massenkonsum.“ Aber vielleicht meint er damit ja auch gar nicht Farmville oder YouTube, sondern nur das Privatfernsehen. Oder noch etwas ganz anderes. Zum Glück bleibt das angenehm undifferenziert. Genau wie der hehre Wunsch von Lina Ben Mhenni, auch in Zukunft „die Wahrheit“ verbreiten zu dürfen.

Apropos: In den kommenden Tage erscheint Band drei, „Engagiert euch!“, wieder von Stéphane Hessel. Und die Reihe lässt sich natürlich beliebig fortsetzen, hier schon mal ein paar Vorschläge: „Wehrt euch!“ „Beschwert euch!“ Und fürs kommende Weihnachtsgeschäft: „Seid fruchtbar und – vermehrt euch!“

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