DIE EWIGEN GERANIENBALKONE

Als Kind hat sie jedes Jahr mit ihren Eltern Urlaub auf einem Bauernhof gemacht. Zwanzig Jahre später kehrt unsere Autorin dorthin zurück. BERLINER MORGENPOST. 25. Juni 2011.

Ich bin das älteste von drei Kindern und meine Eltern waren keine Sandstrand-Fans. Auch keine Fernflieger, keine Camper, keine Sightseeing-Touristen. Sie fuhren mit uns nach Kärnten. Die ganzen achtziger Jahre hindurch. Immer an denselben Ort, umgeben von denselben Bergen, den denselben Seen, zu Gast immer bei derselben Familie: den Scherzers. Die hatten auch drei Kinder, genau im gleichen Alter wie wir, und ansonsten: einige Gästezimmer, eine Scheune, ein paar Kühe, Schweine, Katzen, ein kaltes Bergbächlein hinterm Haus. Blumen, Berge, Wiesen, Wasser.

Im Nachhinein muss man zugeben: Es war perfekt. Und unsere Wiederkehr auch jedes Jahr ein Fest. Wenn wir die letzten Kilometer auf der Bundesstraße entlang fuhren, vorbei am großen Millstätter See, dann wurde auf dem Rücksitz unseres grünen Passats nur noch gezappelt und geschrien: „Gleich sind wir da!“ Meine Eltern spielten Jahr für Jahr dasselbe Spiel mit uns: Na, wer sieht ihn zuerst? Und wo liegt er nochmal, rechts oder links? „Rechts!“ brüllten wir. Und da war er auch schon. Der alte Gutshof mit seinen Nebengebäuden, unverkennbar, allein am Berghang. Unser geliebter Thurnerhof.

Aber Idylle hin oder her: Natürlich haben wir auch gequengelt und gejammert. Das fing schon bei der Autofahrt an. Ich erinnere mich vor allem an Hitze und Langeweile. Und die ewige stöhnende Frage: „Wann sind wir endlich da?“ Überhaupt waren die Urlaube von Wann-Unterhaltungen durchzogen. Wann kommt das Gipfelkreuz, wann ist diese blöde Wanderung zu Ende, wann können wir wieder schwimmen gehen, wann gibt’s endlich Essen?

Das Jahrzehnt verging wie im Flug. 1980 hatte es uns zum ersten Mal hierher verschlagen, 1988 saß ich zum letzten Mal auf der Rückbank des Familienautos. Zwar waren die letzten Sommerferien so schön wie all die vorherigen gewesen – in meiner Erinnerung toben wir eigentlich von früh bis spät durchs Heu oder schwimmen im windstillen See – aber Pubertät und Bauernhof, das geht einfach nicht mehr zusammen. Ich wollte mit einer Jugendgruppe nach Rimini, ich wollte zum Schüleraustausch in die USA. Vor allem aber hatte ich die Nase voll von Wanderschuhen, Edelweiß und Marillenknödeln. (Und wie spießig ich heimlich meine Eltern fand, dass sie keine anderen Sehnsuchtsorte zu kennen schienen, als immer nur dieses Österreich. Mit seinen endlosen Geranienbalkonen.)

Zwanzig Jahre lang kehrte ich dem Land schnippisch den Rücken, was ist schon Kärnten, wenn man nach Los Angeles fliegen kann oder zum Zelten nach Portugal. Mit Freunden nach Griechenland. Oder nach Bulgarien, Schweden, Madeira, Mittelmeerküste. Jeden Sommer eine neue Entdeckung, Hauptsache heiß. Wandern, nein danke. Deutschsprachiges Ausland, pfff.

So ging das bis zum Sommer 2008. Da war meine Entourage mittlerweile auf einen Mann und zwei Kinder angewachsen, und auf dem langen Weg nach Kroatien lag plötzlich – Kärnten. Wir fuhren mit dem Auto mitten hindurch und blieben eine Nacht. Erst auf dem Hinweg, dann nochmal auf dem Rückweg. „Rentnerberge“, sagte mein Mann ein bisschen abfällig, als wir uns durch die Täler des Nockgebirges schlängelten. Zu grün, zu lieblich. Und nicht mal richtig hoch.

Bei mir aber löste der kurze Zwischenstopp etwas anderes aus. Es war, als ob man einen vergessenen Jugendschwarm wieder trifft. Alles erschien mir einladend. Das Panorama filmreif, das Klima mild, der Dialekt drollig, das Essen großartig. Hier wollte ich sein. Hier, und nirgendwo anders. Nicht in dem grässlich heißen Kroatien, wo der Strand felsig und die Sonne absolut kleinkinduntauglich war. Auch nicht mehr in irgendwelchen Billigfliegern auf dem Weg in anonyme Appartmentanlagen. Ich wollte keine schicken Hotels mit bombastischen Frühstücksbuffets mehr, und auch keine lauwarmen Gemeinschaftsduschen auf staubigen Zeltplätzen. Sondern zurück hierher. Zu meinem Thurnerhof.

Der erste Kontakt am Telefon ist komisch. Natürlich weiß Lorenz Scherzer gleich, wer ich bin. Im Sommer 1980 hat er meinen siebten Geburtstag mit mir gefeiert, da war er gerade 8. Mit 12 haben wir zusammen Scheunendiskos organisiert, mit 13 in Endlosschleife seine Dire Straits Platten gehört. Ich habe ihn groß werden sehen, und er mich. Aber das ist lange her. Keine Ahnung, ob man an diese Kindheitsfreundschaft wieder anknüpfen kann. Vielleicht entpuppt sich der ganze Plan vom Nostalgieurlaub  ja auch als großer Irrtum. Oder es regnet die ganze Zeit. Oder alle anderen Gäste sind blöd. Oder. Oder. „Ich reserviere dir das Familienzimmer im Haupthaus“, sagt Lorenz. Na gut, denke ich, lassen wir uns überraschen.

Die Anreise ist genau wie damals: Um München Stau, ab Salzburg Quengelalarm auf dem Rücksitz. „Wann sind wir endlich da?“ Ich muss auf die Karte schauen, ich erinnere mich überhaupt nicht, welche Routen meine Eltern immer genommen haben. Nur an die optischen Anker während der Autofahrt kann ich mich erinnern: Die ersten Berge kurz vor der Grenze. Die Mautstation. Die Tauerntunnel, der längste über acht Kilometer lang. Die Angst beim Durchfahren. (Es gab schreckliche Schauergeschichten von kilometerlangen Rückstaus, röchelnden Autofahrern, sterbenden Hunden.)

Wie meine Eltern dann allerdings den Weg von der Autobahnabfahrt „Spittal an der Drau“ in das kleine Feld am See fanden, war mir als Kind komplett schleierhaft. Irgendwie durch die Täler ging die Fahrt, aber wo genau entlang? Erst jetzt, mit dem Autoatlas auf den Knien, bekomme ich eine Vorstellung von den Entfernungen und Himmelsrichtungen. Und als der Thurnerhof endlich rechts vor uns auftaucht, da ist es, als wären nicht zwei Jahrzehnte, sondern nur ein paar Monate vergangen. Alles fühlt sich vertraut an: Die kleine Straße, die den Berg hinauf führt. Mein Herz, das vor Vorfreude hüpft.

Aber dann sieht es oben doch ein bisschen anders aus als früher. Vor der Scheune ist jetzt ein Kinderspielplatz, zum Hang hin abgezäunt, damit kein Kleinkind runterfällt. Die Tischtennisplatte gibt es nicht mehr, auch Katzen und Kühe sind abgeschafft. Die Scheune ist leer und darf nicht betreten werden. Dafür ist hinterm Haus ein großer Fußballplatz. Und es stehen jede Menge Plastikfahrzeuge rum, Roller, Bagger, Dreiräder.

Ich bin ein bisschen enttäuscht. Später werden wir lange darüber reden, abends bei Rotwein in der Wirtsstube. Lorenz wird erzählen, welche Sicherheitsauflagen heute Spielplätze erfüllen müssen. Was die Gäste erwarten, welche Events viel Publikum locken. Und dass unsere herrlichen Bullerbü-Spiele im Stall, samt meterhohen Sprüngen in die Tiefe der Heuberge, heute völlig undenkbar wären. „Zuletzt hatten wir nur noch ein paar Hasen“, sagt seine Frau Monika, aber die seien von manchen Kindern fürchterlich drangsaliert worden. „Deshalb haben wir sie abgeschafft.“

Trotzdem war nicht nur alles damals toll und ist heute schlecht. Im Gegenteil: Viele Zimmer wurden renoviert und ausgebaut, das Essen ist immer noch sensationell, der Service super. Und die Gastfreundschaft der jungen Scherzers wirkt so authentisch und unkompliziert, dass wir uns binnen Stunden wie zuhause fühlen. Dass auch Lorenz und Monika mittlerweile drei Kinder haben, die Tag und Nacht durchs Haus rennen, dabei Gläser umstoßen und Spielzeug fallen lassen, macht die Sache natürlich noch einfacher. Nicht eine Sekunde lang habe ich das Gefühl, meine Kinder mit „Seid still und benehmt euch“-Ermahnungen in Schach halten zu müssen. Und ich beginne zu ahnen, warum meine Eltern es hier immer so entspannend fanden.

Auch bei unseren Tagesausflügen in die Berge überrascht mich mein biederes altes Kärnten immer wieder positiv. Unten im Tal funktioniert alles unaufgeregt und reibungslos, oben ist an vielen Orten die Zeit schlicht stehen geblieben. Manche der Hütten, in die wir einkehren, sind derart urig, dass man sich wie in einem Heidi-Remake vorkommt. Sennerinnen in Trachten, selbstgebackene Krapfen, Quellwasser versüßt mit Himbeer- oder Holunderblütensirup. Manchmal krieg ich mich vor lauter Begeisterung gar nicht mehr ein.

Wenn bloß die hysterische Angst vor der Sesselliften nicht wäre. Als Kind habe ich da mit keiner Wimper gezuckt. Jetzt plagen mich schlimmste Unfallvisionen. Was, wenn wir abstürzen, wenn ein Kind vom Schoß rutscht, wenn es dann da unten liegt, dreißig Meter in der Tiefe, zerschmettert? Jedes Mal, wenn wir oben ankommen, bin ich steif vor Angst. Ob das meiner Mutter damals auch so ging? Die Kinder machen sich jedenfalls ausgiebig über mich lustig. Und natürlich passiert nichts. Außer, dass mein übermütiger Mann einmal aus der Sommerrodelbahn fliegt und sich das Bein aufschürft.

Die Wanderungen, die wir unternehmen, verdienen eigentlich ihren Namen nicht. Es sind eher Spaziergänge. Anders als meine Eltern nehmen wir es auch mit der richtigen Ausrüstung nicht so genau. Bergschuhe, Regenjacken, dicke Pullis – haben wir nicht, oder vergessen wir regelmäßig im Auto. Ich weiß noch, wie sich mein Vater damals immer über die Badelatschen-Fraktion lustig gemacht hat. „Die fahren mit dem Auto den Berg hoch, laufen drei Meter und fahren wieder runter.“ Seine Tochter macht es zwanzig Jahre später nicht anders. Einmal rächt sich ein Gipfel dafür – und empfängt uns mit fünf Grad Celsius und eiskaltem Wind. Es hilft nichts, wir müssen auf dem Absatz kehrtmachen und zurück ins warme Tal fliehen. „Hätte ich dir gleich sagen können“, meint meine Mutter abends am Telefon. „Auf der Turracher Höhe ist es immer kalt. Weißt du das denn nicht mehr?“ Als ob ich mir die Namen von den Bergen gemerkt hätte.

Wir bleiben, trotz solcher peinlichen Zwischenfälle, bei unserer Wandern-light-Strategie. Die Kinder finden dennoch ausreichend Anlass, sich zu beschweren. „Wie weit ist es denn noch, ich kann nicht mehr, ich will lieber zum See.“ Abends klage ich Lorenz mein Leid. „Das geht den Einheimischen mit ihrem Nachwuchs nicht anders“, kommentiert er lapidar. So war das schon immer. Und so wird es immer bleiben. Das beruhigt mich enorm.

Auch bei den Touristenämtern ist das Problem vieler Familien offenbar bekannt. Wir finden jedenfalls haufenweise Bergstationen, die mit Spielplätzen oder Streichelzoos aufgerüstet wurden. Und bei unserem zweiten Besuch auf der Turracher Höhe entdecken wir dort sogar einen wunderschönen Erlebnis-Rundweg. Voller experimenteller Klanginstallationen, Möglichkeiten zum Klettern, Rennen, Hämmern, Schaufeln. Dazu alle paar Meter hölzerne Hollywoodschaukeln zum Ausruhen und Beine baumeln lassen. Und siehe da, die Kinder mögen es. Nur der Affenpark unterhalb der Landskron gefällt ihnen noch besser. Da laufen wir vorsichtig durch ein riesiges Waldgehege, während Dutzende Japanmakaken sich bis auf ein paar Zentimeter an uns heranpirschen. Oder aus Baumkronen hochmütig auf uns herabblicken.

Die Zeit vergeht viel zu schnell. Und das Wetter übertrifft sich, Kärnten-untypisch, jeden Tag selbst. Fast täglich springen wir nachmittags in den kleinen Feldsee, beim „Nindler“, einem netten, dicken Mann, der ein altmodisches Strandbad betreibt. Früher bin ich mit meinem Vater hier manchmal quer über den See geschwommen, jetzt stürzen sich meine Töchter vom 3-Meter-Sprungturm. Am Ufer sitzend sehe ich zu – und finde es beglückend und komisch zugleich, dass ihre und meine Kindheitserinnerungen sich von nun an gleichen werden.

Am frühen Abend geht‘s dann wieder zurück zum Thurnerhof, wir haben Halbpension, genau wie meine Eltern immer. Und wie damals sind wir meistens die ersten, die Punkt sechs hungrig den Essensraum stürmen. Wenn die Kinder dann später in der zweiten Etage im Bett liegen, sitzen wir oft noch lange mit Lorenz und seiner Frau Monika zusammen. Und ich sehe den Hof, der mir als Kind wie ein Paradies auf Erden vorkam, plötzlich auch mit den Augen einer Erwachsenen.

Was es für das Paar heißt, jeden Morgen um sechs Uhr Frühstück für zig Gäste vorzubereiten, sie lächelnd zu bedienen, für jede Frage Zeit, für jedes Problem ein offenes Ohr zu haben. Auch wenn die eigenen Kinder vielleicht dringend  gewickelt oder angezogen werden müssten. Überhaupt, wie anstrengend das sein muss, kaum Privatsphäre zu haben. Von Auslastungszahlen und touristischen Trends abhängig zu sein. Kostspielige Sanierungen an dem alten Gehöft stemmen zu müssen. Nie selbst wegfahren zu können. Außer ein paar Tage im November, wenn Nebensaison ist. Und jedes Jahr Weihnachten mit dutzenden Gästen zu feiern, Silvester natürlich auch.

Wie anders sieht dagegen unser Alltag aus, unsere urbane Unabhängigkeit, samt langen Wochenenden und Spontanurlauben. Lorenz hat sein ganzes Leben auf dem Thurnerhof verbracht, schon als Jugendlicher abends beim Kellern geholfen, schon mit Ende Zwanzig entschieden, dass er den Betrieb übernehmen wird. Welches Glück er hatte, eine Frau wie Monika zu treffen. Die verliebt genug war, ihren gutbezahlten Job in einer Bank aufzugeben. Und die jetzt, trotz drei kleiner Kinder, fast jeden Abend hinterm Tresen steht und alle mit ihrem trockenen Humor unterhält.

Als der Urlaub zu Ende geht, ist es kein trauriger Abschied. Wir kommen wieder, das ist längst beschlossen. Vielleicht schon im nächsten Jahr, spätestens aber im übernächsten. Oder mal im Frühling, oder im Herbst. „Da röhren hier manchmal die Hirsche so laut, dass man kaum schlafen kann“, hat Monika erzählt. Das klingt gut.

Auf der Heimfahrt hören wir traditionelles Liedgut, gesungen von einem Kärntner Männerchor. „Passt zu den Rentnerbergen“, sagt mein Mann, aber diesmal klingt es fast liebevoll. Auch ich bin auf einmal ganz wehmütig. Weil es so schön war? Weil ich so gerne noch geblieben wäre? Oder weil ich nach so langer Zeit ein Stück Heimat, ein Stück Kindheit wiedergefunden haben?

Vielleicht ist es einfach die schlichte Erkenntnis: Ich bin offenbar kein Sandstrand-Fan mehr. Eigentlich bin ich auch keine Fernfliegerin, keine Camperin, keine Sightseeing-Touristin. Ich möchte meine Urlaube mit meinen Kindern in Kärnten verbringen. Zwischen Blumen, Bergen, Wiesen und Wasser. Dass meine 11-jährige Tochter auf der Rückbank das anders sieht – „Ich will ans Meer!“ –, damit kann ich gut leben. In zwanzig Jahren sprechen wir uns wieder.

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