ES LECKT

Das Internet bringt alles ans Licht. Dafür kann niemand etwas – oder doch? TAGESSPIEGEL. 12. Mai 2011.

Es hat beste Chance, das Wort oder Unwort des Jahres zu werden: der / die / das „Leak“. Also alle Arten von Lecks und Löchern, aus denen heraus irgendwas ins Internet fließt. Geheime Diplomatendepeschen, unveröffentlichte Songs, sensible Kundendaten, halbfertige Buchmanuskripte, die Liste ist lang.

Und bei jedem neuen Leak sind die Internetversteher sich schnell einig mit ihrer Einschätzung: So ist sie halt, die neue Zeit, digital gespeicherte Daten sind per se unsicher. Jeder Depp kann sie auf einen Stick ziehen, runterladen, hochladen, weiterleiten. Das hat überhaupt nichts mit menschlicher Schwäche oder Bosheit zu tun. Kopieren, verlinken, Streisandeffekt – das Internet, das über uns kam wie ein Gewitter, macht das von ganz alleine. Gewöhnt euch dran.

Self-Fulfilling-Netzprophecy könnte man diese Haltung auch nennen. Hier stehen wir, wir können gar nicht mehr anders. Wo das Medium zur unkontrollierbaren Schicksalsmaschine stilisiert wird, zur launischen Übermutter, die man anbeten oder verteufeln kann (beides ist ihr naturgemäß vollkommen schnuppe), gibt es kein Forschen nach individuellen Ursachen oder Verursachern mehr. Sondern nur die Frage nach der richtigen Reaktion. Soll man sich gleich ergeben? Oder doch versuchen, Widerstand zu leisten?

Ergebt euch!, rufen die Post-Privacy- und Post-Copyright-Verfechter neuerdings immer lauter. Denn der Kampf gegen Naturgewalten ist wie der gegen Windmühlen: seit jeher zwecklos. Das Medium ist die Message und die heißt Sintflut der Daten. Es drängt sowieso alles zur Sonne, ans grelle YouTube-Licht. Und wehe, ihr versucht das zu kontrollieren, regulieren, kanalisieren. Dann wird die virale Rache umso fürchterlicher sein… So, und jetzt zeigt uns endlich den zerschossenen Kopf von Osama Bin Laden. Früher oder später leakt er sowieso.

Die mit den Datenschätzen, die noch nicht zerronnen sind, denken aber gar nicht daran, vorauseilenden Veröffentlichungsgehorsam zu praktizieren. Im Gegenteil, sie rüsten auf. Mauern sich ein, bauen fensterlose Bunker, in die man nur nackt ein- und austreten darf. Server, die kein Internet können, Laptops ohne USB Anschluss. Oder nehmen ihren Angestellten an der Pforte die Smartphones ab. Auf dass niemand irgendwas von irgendeinem Bildschirm abfotografieren kann.

Nun muss man kein Kenner der Grimmschen Märchen sein, um den kontraproduktiven Nebeneffekt von rigorosen Verboten zu kennen. Je finsterer die Drohungen, aber auch je lukrativer die erhoffte Beute, desto absehbarer ist die Grenzüberschreitung. Natürlich wird, was unter viel Hochsicherheitsgetue produziert oder gehostet wird, dadurch nur noch interessanter. Und die strenge Ansage, niemals eine bestimmte Tür zu öffnen, ist kulturgeschichtlich gesehen quasi eine explizite Aufforderung zum Einbruch. Blaubarts Frau hat es vorgemacht: Kaum war der Ehemann aus dem Haus, hat sie mit dem goldenen Schlüssel die geheime Kammer geöffnet. Und stand dort – statt in Gold und Edelsteinen – knietief im Blut ihrer Vorgängerinnen. Hat sie nun davon, oder?

Tatsächlich ist das die entscheidende Frage: Was hat sie denn nun davon? Wem nützen welche Vertrauensbrüche, Indiskretionen, Raubkopien, wem schaden sie, wer plant und wer verursacht sie? Mit den strukturellen Eigenschaften des Mediums allein ist das nicht hinreichend beantwortet. Die gesellschaftlichen Ursachen des Leaking-Phänomens verbergen sich unterhalb der technischen Oberfläche. Da wo Gerechtigkeitsempfinden auf Weltanschauung trifft, Imageschaden auf Umsatzeinbußen oder Geiz auf Geltungsdrang. Medien haben keine Motive, Menschen schon.

Das Märchen vom Blaubart geht übrigens gut aus, jedenfalls aus Sicht der Ehefrau. Zwar wetzt der zornige Mann nach seiner Rückkehr sofort die Messer, zwecks Schlachtung der ungehorsamen Gemahlin. Aber ihre eilig herbeigerufenen Brüder erschlagen den fiesen Typen. Und seine Reichtümer erbt… na, wer wohl.

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