„WIR SIND NOCH DA UND KOMMEN AUCH WIEDER“

Nach furiosem Aufstieg versanken sie in der Bedeutungslosigkeit. Nun will die Piratenpartei das Berliner Abgeordnetenhaus entern. ZITTY. 23. März 2011.

An Transparenz mangelt es nicht. Ein ebenerdiges Gewerbe in Mitte, Pflugstraße Ecke Wöhlertstraße, bodentiefe Fenster, keine Vorhänge. Im vorderen Büroraum sitzen sechs junge Männer, alle mit dem Rücken zur gleichen Wand, jeder einen Laptop vor sich. Auf einem Tisch in der Ecke liegt ein großer Stapel Zeitungen. „Ja“, sagt Physikstudent Martin Delius, „wir nutzen tatsächlich Datenträger auf Zellulosebasis.“ Dann lacht er.

Es gibt sie also noch, die Piratenpartei. Fast hatte man das schon wieder vergessen. Dabei war ihr politischer Aufstieg vor zwei Jahren furios. 2006 gegründet, dümpelten sie lange in der Bedeutungslosigkeit herum – bis Ursula von der Leyen 2009 mit ihrer Forderung nach Netzsperren die Steilvorlage lieferte. Auf einmal war da ein Thema, ein Widerstand, eine ganze Bewegung. Von 1.000 auf 12.000 Mitglieder wuchs die Partei damals binnen weniger Monate, bei der Bundestagswahl im Herbst 2009 holte sie aus dem Stand 2,0 Prozent, in Berlin waren es sogar 3,4, in Friedrichshain-Kreuzberg über 6 Prozent.

Doch dann passierte – gar nichts. Die Piratenmeute, so schien es, war seitdem hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt. Damit, ihre Vorstände zu wählen und Grundsatzdebatten zu führen. Oder, wie letztes Jahr im Frühling, ein paar feministisch gesinnte Piratinnen lautstark mit „Wir sind postgender!“-Parolen zu vergraulen. Zu den großen Internetdebatten des letzten Jahres dagegen – Google Street View, Facebook und das Datensammeln amerikanischer Unternehmen – schwieg die Partei.

Philipp Magalski, der Pressesprecher des Berliner Landesverbands, ist ein besonnener Mann mit leiser Stimme. „Es gibt uns noch und wir kommen auch wieder“, sagt der 37-Jährige. Im Hinterzimmer der kleinen Parteizentrale tagt gerade die Arbeitsgruppe „Presse“, fünf Männer und eine Frau. Es geht um Strategien für den Wahlkampf. „Wir müssen sichtbar werden“, meint Magalski. Die Runde nickt, die Marschrichtung ist klar. Raus aus dem Netz, rein ins Real Life, in die Berliner Kieze. Ganz klassisch, mit Fähnchen und Handzetteln. 20.000 Exemplare der Piratenzeitung sollen in den kommenden Monaten verteilt werden. Im Sommer wollen sie mit einem Floß über die Spree schippern, außerdem Kiezspaziergänge veranstalten, mit Passanten ins Gespräch kommen. Sonntags im Mauerpark „Kaperfrühstücke“ veranstalten, auch spontane Guerillaaktionen und Flashmobs.

Das ist der Plan, er klingt nach viel Arbeit. Zum Glück bringt immerhin eine der Anwesenden Wahlkampferfahrung mit: Lotte Steenbrink, 20 Jahre alt, knallrote Haare, knallpinkes Kleid. Aus der zurückhaltenden Jungstruppe ragt die Informatikstudentin, die sich selbst „Basispirat“ nennt, nicht nur optisch, sondern auch rhetorisch heraus. Sie kommt frisch aus Hamburg, dort konnten die Piraten vor einigen Wochen 2,1 Prozent holen. „Das war in Anbetracht des kurzen Wahlkampfs ein super Ergebnis“, meint Steenbrink. Jetzt soll es in der Piratenhochburg Berlin noch getoppt werden: „Wir wollen mindestens in ein paar Bezirksverordnetenversammlungen rein.“ Noch großartiger wäre natürlich: ein Direktmandat.

Doch bis dahin ist es ein weiter Weg. Und der Wahlkampf könnte dabei zu einer Feuerprobe des Landesverbands werden. Zwar hat die Partei in Berlin offiziell 870 Mitglieder, aber wie viele sich tatsächlich zur Mitarbeit motivieren lassen, ist noch völlig unklar. Außerdem gibt es weder Erfahrungswerte noch gefestigte Personalstrukturen unter den Ehrenamtlichen. Gerade erst ist die Wahl der Landesliste aus technischen Gründen für ungültig erklärt worden; das Prozedere musste auf einer außerordentlichen Mitgliederversammlung nochmal wiederholt werden. Das nervt.

Die Aktivierung der Mitglieder ist nicht die einzige Baustelle. Auch die inhaltliche Abgrenzung zu den anderen Parteien ist in den letzten zwei Jahren schwerer geworden. „Wir sind die einzigen, die das bedingungslose Grundeinkommen im Programm stehen haben“, betont Pressesprecher Magalski. Im linken Spektrum ist das zurzeit ihr Alleinstellungsmerkmal. Ansonsten sind die Berliner Piraten gegen Geheimverträge, für Kulturförderung, gegen Diskriminierung, für freien Bildungszugang. Und „für mehr Transparenz und mehr Mitbestimmung.“ Aber dafür sind die anderen Oppositionsparteien irgendwie auch alle, oder?

Den Vorwurf der Beliebigkeit will die Arbeitsgruppe nicht auf sich sitzen lassen. „Die anderen stellen ihre Fähnchen doch bloß nach dem Wind“, regt sich Lotte Steenbrink auf. Die Piraten dagegen meinen es wirklich und wörtlich mit der Transparenz und der Partizipation. „Wir haben da so ein wunderbares Tool“, erklärt die junge Frau, „das heißt Liquid Feedback.“ Die Software ermöglicht es, dass größere Gruppen im Netz interaktiv Vorschläge sammeln, Meinungen austauschen, Mehrheiten bilden und Entscheidungen treffen.

Beim Stichwort Liquid Feedback kommt die Runde richtig in Fahrt, die Begeisterung für die Technik ist echt und überschäumend. „Diesen Funken wollen wir auch in die Bezirke tragen“, erklärt Magalski, die Piratenpartei fordert Bürgerpartizipationsportale für Berlin. Ob und wofür die Bevölkerung solche Angebote zukünftig konkret nutzen würde, ist dabei zweitrangig. Es geht darum, die neuen Wege überhaupt erst einmal zu erproben. Dabei hofft man einerseits auf die Generation, die mit dem Netz sozialisiert wurde und große Lust auf interaktive Partizipationsplattformen hat – und will andererseits auch älteren Mitbürgern eine bequeme Art der politischen Mitbestimmung anbieten.

Das Tool, das merkt man, ist den Piraten eine wahre Herzensangelegenheit. Nicht nur, weil es für sie der Inbegriff von Basisdemokratie, Transparenz und niedrigschwelliger Beteiligungsmöglichkeit ist. Sondern auch, weil sie ihr eigenes Schicksal auf Gedeih und Verderb mit diesen Prinzipien verknüpft haben. Denn was sie für den politischen Führungsapparat fordern, exerzieren die Piraten seit ihrer Gründung auch am eigenen Leib durch – gnadenlos. Innerhalb der Partei ist alles öffentlich, das heißt für Mitglieder genauso einsehbar wie für Nicht-Mitglieder, Gegner, Journalisten. Das fängt bei sämtlichen Versammlungen und Gruppentreffen an, geht über die Mailingliste bis ins Piratenwiki – also die Plattform, auf der unter anderem Wahlkampfstrategien oder Parteibeschlüsse diskutiert werden. Selbst Vorstandssitzungen werden simultan protokolliert, kollektiv redigiert und landen dann unverzüglich im Netz.

Das radikale Transparenzdiktat geht mit einem ebenso radikalen Kommunikationsanspruch einher: Alle sollen alles mit allen auf allen Kanälen unter aller Augen diskutieren dürfen. Das wiederum ist nicht nur zeitlich, sondern auch zwischenmenschlich eine ziemliche Herausforderung: Bis zu 100 Emails am Tag gehen allein auf der offenen Berliner Mailingliste hin und her. Neben vielen organisatorischen Absprachen finden sich darunter auch haufenweise feindselige Angriffe, Vorwürfe, Unterstellungen, sowie regelmäßige Beschwichtigungs- und Erklärungsversuche. „Mit diesem organisationsimmanenten Hang zur kakophonischen Mittelmäßigkeit kämpfen auch andere Parteien“, schreibt entnervt ein Absender. „Nur haben die unsere Phase basisdemokratischer Lächerlichkeit längst hinter sich gelassen.“ Ein anderer ergänzt: „Mittlerweile bin ich politikverdrossener als ich es jemals zuvor war.“

Die Unzufriedenheit vieler Mitglieder über die diskursive Selbstzermürbung ist auch in der Zentrale bekannt. Am Tisch wird abgewiegelt: „Ja, stimmt, es gibt Probleme in der Debattenkultur.“ Aber soll die Partei deshalb mit grundlegenden Piratenprinzipien brechen und Foren-Moderation oder Redeverbote einführen? Die Runde ist unentschlossen, die Basis gereizt. „Vielleicht müssen wir solche Maßnahmen trotzdem treffen, um uns selbst zu strukturieren und disziplinieren“, meint Parteimitglied Delius. Andererseits, schiebt er schnell hinterher, „müssen Informationen fließen dürfen, wohin sie wollen!“

Bleibt also erst mal nur die vage Hoffnung, dass der kommende Wahlkampf den Fluss der Informationen wieder konstruktiv zu bündeln vermag. Noch besser, aber das sagt an diesem Abend niemand so direkt, wäre natürlich eine zweite Zensursula. Nichts schweißt bekanntlich mehr zusammen als ein gemeinsamer Feind.

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