IM STAHLBAD

Einmal im Jahr lädt ThyssenKrupp in Bochum zur Hauptversammlung. Unsere Autorin, Kleinaktionärin und Ex-Bochumerin, ist hingefahren. DAS MAGAZIN. März 2011.

9:22 Uhr. Den Weg kenn ich. 308 Richtung Gerthe, Ausstieg Ruhrstadion. Das war auch mein Schulweg, neun Jahre lang. Die 308 find ich auch sofort, aber die Haltestelle gibt es nicht mehr. Beziehungsweise sie heißt jetzt „rewirpowerSTADION“, von rewirpower, so nennen sich die Stadtwerke neuerdings. Mann, haben die hier kein Geld für anständige PR-Agenturen? Denke ich und trotte hinter Horden grauhaariger Herren her. Die wollen bestimmt auch alle zu ThyssenKrupp. Oder waren schon ihr Leben lang dort.

9.45 Uhr. Auch die Ruhrlandhalle, Mehrzweckbau meiner Jugend, Ort meines Tanzschulabschlussballs, meiner ersten Lokalreportereinsätze (oh, unvergessenes Milva Konzert), haben sie offenbar abgerissen. Jetzt steht hier ein gläsernes Ding namens RuhrCongress, davor fünf lange Schlangen mit Rentnern, man trägt Jägerhüte oder wollene Käppis. Auf dem Parkplatz schwarze Limousinen mit Essener Kennzeichen, daneben halten vier Demonstranten ein Schild hoch: „Die Bucht von Sepetiba will auch leben“. Die Bucht von was?

Eine Frau drückt mir einen Zettel in die Hand: „Stop Greenwashing“, vom Verband Kritischer Aktionäre. Ich lese aufmerksam, aber es geht komischerweise nur um RWE. Vielleicht haben sie heute Morgen die falschen Flyer eingepackt.

10:00 Uhr. Einlass schlimmer als am Flughafen: Bitte öffnen Sie Ihre Handtasche, Wasser, Obst, Deo dürfen nicht mit reingenommen werden. Den Rechner mal hochfahren. Ok, gut, weitergehen.

10:07 Uhr. Innen drin ist es auf einmal doch die alte Ruhrlandhalle, nur mit neuem Foyer, neuer Empore und neuen Stühlen, und ohne die wunderschönen Kugellampen, die früher von der Decke hingen. Der Saal ist ziemlich voll, mehrere tausend Menschen, ich gehe erstmal Richtung Bühne. Promis gucken.

Ein paar der Herren kenne ich aus Funk und Fernsehen, der greise Herr Beitz von der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach Stiftung, denen gehören immer noch 25 Prozent von ThyssenKrupp. Dann Vorstandsvorsitzender Schulz, genannt „Eiserner Ekki“, daneben Aufsichtsratsvorsitzender Cromme, das ist der, der bei Siemens aufgeräumt hat. Und da, der Steinbrück, der Ex-Minister, was macht der denn hier? Ach so, auch im Aufsichtsrat.

Ich würde gerne hier vorne bleiben, wo man den Herrschaften hautnah ins Gesicht gucken kann, aber leider sind die ersten Reihen für die Banker reserviert. Ich muss auf die billigen Plätze. Dabei gehören mir auch 50 Aktien. 50 von 50 Millionen.

11: 15 Uhr. Herr Doktor Cromme hat uns begrüßt, hat die anderen Herren Doktoren auf dem Podium vorgestellt, auch die einzige Frau Professor Doktor, die offenbar neuerdings mitmachen darf. Dann hat der Herr Doktor Cromme das Wort an den Herr Professor Doktor Schulz übergeben, der dem Herrn Doktor Beitz gedankt hat, und dem Herrn Doktor Cromme natürlich auch. Nun erklärt er seit einiger Zeit die Bilanzen. Er tut das mit angenehm kraftvoller Stimme, von einem ebenerdigen Stehpult aus, dazu schöne Grafiken auf der riesigen Leinwand über der Bühne. Ich lerne: Letztes Jahr lief schlecht (minus 2,3 Milliarden), dieses Jahr war wieder besser (plus 1,1 Milliarden), bei Steel Americas knirscht es noch, in Brasilien gab’s ein bisschen Ärger mit den Chinesen und den Emissionen.

Was mich behaglich stimmt: Wenn der Vorstandvorsitzende „Steel Americas“ sagt, klingt das wie „Amärrikas“, so spricht auch mein Vater englisch. Alles mit beharrlich deutschem Zungenschlag, ganz ohne kehliges R. Überhaupt ist der Herr Schulz ein Mann, bei dem einem spontan lauter altmodische Ausdrücke einfallen: hart aber herzlich, ein Mann ein Wort, mit Handschlag besiegelt usw. Dass er „passionierter Jäger“ ist, glaubt man sofort.

11:45 Uhr. Ich bin komplett eingelullt. Wir haben harte Zeiten hinter uns, aber nun ist der „Törneraunt“ geschafft, nun kehren wir auf den Wachstumspfad zurück. Wir haben eine transatlantische Strategie, wir blasen den Hochhofen in Brasilien an, wir schiffen die Bramme rüber, wir schaffen Arbeitsplätze, wir halten Grenzwerte ein, wir bauen Schulden ab, wir verbessern das Rating, wir sichern den Standort Deutschland. Alles ist gut, alles ist nachhaltig. Wenn das hier ein Motivationstraining wäre – bei mir hätte es jetzt schon gewirkt.

Gerade hält Schulz ein ergreifendes Plädoyer für das Ingenieursstudium, leider gibt es ja viel zu wenig junge Leute, die diesen großartigen Beruf wählen. Während ich ernsthaft über Globalisierung, Wertschöpfung und Baumaterialien nachdenke, und warum ich mich meine ganze Pubertät lang nur für die „Zeche Bochum“, also die Disco, interessiert habe, aber nicht die Bohne für Koks und Kohle und Eisen und Stahl… da bricht dem großen Mann am Mikrofon die Stimme, weil er sich nun, nach 40 Jahren bei Krupp, verabschiedet. Von Glück und Ehre ist die Rede, Blumen werden gereicht, Männer drücken sich, auch ich bin den Tränen nah. Ja, jetzt Standing Ovations. Und meinetwegen könnte die Veranstaltung dann auch zu Ende sein.

12:10 Uhr. Ist sie aber nicht. Herr Cromme verliest die Reihenfolge der Redner aus dem Publikum, erklärt was von roten Lampen und zehnminütiger Redezeit. Da steht auch schon der erste am Mikrofon. „Das ist einer von den Aktionärsvertretern, die reden immer zuerst“, tuschelt mir mein rechter Nachbar, ein älterer Herr mit Aktentäschchen, zu. Dann ergeht ein 15-minütiger Wortschwall auf uns, der vor allem davon handelt, wie es damals anno irgendwann zu dem Spitznamen „Eiserner Ekki“ gekommen ist. Und dass er, der Redner, den erfunden habe. Aha, soso. Der Saal leert sich.

12:35 Uhr. „Bleiben Sie sitzen?“, fragt mein linker Nachbar ungläubig, vorne hat der dritte Redner aus dem Saal gerade zum großen Irgendwas ausgeholt. Als ich bejahe, und auch verspreche, auf seinen Beutel aufzupassen, stürzt er glücklich davon. Und der rechte gleich hinterher. (Später weiß ich auch warum: Im Foyer gibt’s jetzt Bouletten und Brühwürstchen, gratis natürlich.)

12:45 Uhr. Hat da gerade einer was von „Staatsanwalt“ gesagt? Scheint wohl doch alles nicht ganz so smart anzulaufen in Brasilien… Ab und zu wird es wirklich spannend. Wenn die Fragenden ausnahmsweise Klartext reden. Nach Vorstandsgehältern fragen, nach sinkenden Bruttolöhnen, nach drückenden Schulden. Oder nach dem Kurseinbruch vor ein paar Tagen, als der Hippe (also der Herr Doktor Hippe, seines Zeichens scheidender Finanzvorstand) seinen spontanen Wechsel in die Schweiz verkündete. „Der wollte selbst der neue Chef werden“, tuschelt der zurückgekehrte linke Nachbar mir zu. „Aber stattdessen hat der Cromme einen von Siemens geholt.“ Erst jetzt fällt mir auf, dass der Herr Hippe da vorne schon die ganze Zeit eher nicht so in Lächellaune zu sein scheint.

13:05 Uhr. Immer noch keine Antworten, dafür endlich die erste weibliche Rednerin. Blonde junge Frau, strenger Zopf, ich bin gespannt. „Geht das wieder los“, mault der Nachbar, schiebt dann aber schnell noch ein versöhnliches „ham ja recht“ hinterher. Die Frau öffnet den Mund, das böse Q-Wort fällt, Massen im Saal erheben sich und strömen nach draußen. Die Frauenquote in den Führungsetagen scheint kein Thema zu sein, dass den Kleinaktionären unter den Nägeln brennt.

13:17 Uhr. Nach der Feministin kommt die Christin. Waisenkinder in Südafrika, Rüstungsexporte in Krisengebiete, erneuerbare Energien, Kompensationsprojekte, U-Boote für Pakistan, kann man da nachträglich Atombomben dran bauen? Leider ist das rhetorische Können der Rednerin nicht halb so gut wie ihr ethisches Anliegen, ich möchte ja zuhören, aber es ist so… Ich geh mal kurz austreten.

13:23 Uhr. Anfängerfehler. Im Foyer sind die Bouletten längst alle. Aber in der Not frisst der ThyssenKrupp-Aktionär natürlich auch labberigen Gemüsebratling.

13:38 Uhr. Zehn Publikumsbeiträge haben wir jetzt hinter uns. Nun kommen die Antworten. Während ich noch überlege, wie die da oben auf der Bühne sich das alles gemerkt haben, erklärt mein hilfsbereiter Nachbar – mittlerweile ist ihm klar, dass ich ein ahnungsloser Neuling bin – das Prozedere: Alle Fragen werden wörtlich mitgeschnitten, abgetippt und hinter der Bühne von einem riesigen Mitarbeiterstab schriftlich beantwortet. Stapelweise Zettel kriegen die Vorstandsherren jetzt von unsichtbarer Dienerhand angereicht, ach, deshalb die hohen Tribünen. Abgelesen werden dann jede Menge komplizierter Zahlen, man kann ja auch alles immer irgendwie anders rechnen.

14:45 Uhr. Zweite Fragerunde. Im Saal sind vielleicht noch zweihundert Zuschauer, auch meine Nachbarn sind beide nach Hause gegangen. Als der erste Redner ans Pult tritt, wird mir schlagartig klar, warum: Jetzt kommen die Spinner. Und was für welche. Einer will, dass ThyssenKrupp mit den diesjährigen Dividenden eine Reederei in seiner Nachbarschaft kauft, dann hätte er zu den Versammlungen nicht so einen weiten Anfahrtsweg. Eine andere beklagt sich über die großen Briefumschläge, in denen die Einladungen verschickt worden sind, so eine Geldverschwendung, das hätte doch auch in DIN lang reingepasst. Einer hat eine thailändische Frau gefunden und geheiratete, jetzt möchte er gerne, dass sich ThyssenKrupp beim Neubau des maroden thailändischen Schienennetzes einbringt. Einer will wissen, wie viele Zuschauer die Live-Übertragung im Internet jetzt gerade sehen – „Ich vermute nämlich, dass da ein Mordsaufwand für ganz wenig Leute gemacht wird.“ Drei hassen Peer Steinbrück, und zwar hauptsächlich, weil er ihnen die Pendlerpauschale weggenommen hat. Dafür wollen sie ihn ordentlich beschimpfen, den „Schuft“. Herr Cromme lässt vorübergehend das Mikrofon ausschalten.

Auch ein paar strickpullovernde Gutmenschen haben noch ihre Auftritte, es geht wieder um Frauen, um Waffen, um Fischerbuchten. Die ältere Dame hinter mir rollt die Augen: „Der war letztes Jahr auch schon da.“ „Und die auch, die hat genau die gleiche Ansprache gehalten.“ Das scheint hier überhaupt ein ziemliches same procedure as every year james zu sein.

15:48 Uhr. Was auffällt: Jeder hat was mitgebracht. Einen Zeitungsartikel, den er vorlesen will. Einen historischen Exkurs, den er vorzutragen gedenkt. Ein Ratgeber-Buch, das er dem Vorstand zur Lektüre empfiehlt. Broschüren für christliche Vorstandskräfte, Einladungen zu irgendwelchen Tagungen. Und ich verstehe endlich das Prinzip dieser langatmigen Wortmeldungen: Es geht darum, dass die Herren da oben an ihrem Vorstandsaufsichtsratsbankett endlich mal zuhören müssen. Nichts können sie abtun oder weglächeln oder ironisch übergehen oder süffisant ignorieren. Immer und immer wieder werden Zettel aus dem Off angereicht, immer und immer wieder selbst die beknacktesten Vorschläge ordnungsgemäß beantwortet. Das macht schon Spaß. Jedenfalls denen, die hier ihre Auftritte haben. Für den Saal ist es eher ermüdend.

16:25 Uhr. Der vorläufige Höhe- und Schlusspunkt: Eine ältere Frau mit lustigen Locken, offenbar auch ein bekannter Dauergast, rattert ungefähr 89 Fragen herunter. Was hat die Veranstaltung heute gekostet, was der Fahrdienst, was das Catering, was das Porto, was die Werbekampagnen insgesamt, was dies, was das, was jenes. Kein Zweifel, das ist absurdes Theater. Und der Vorstand, kollektiv in Geiselhaft, muss ihm beiwohnen. Die Beantwortung wird Stunden, Tage dauern. Jetzt weiß ich, warum Manager Millionen verdienen. Darunter würde ich den Job hier auch nicht machen.

17:00 Uhr. Die Frau kriegt ihre Fragen schriftlich beantwortet, hat der Herr Cromme angeordnet, danke und halleluja. Nun kämpfen wir nur noch mit einem allerletzten Vorschlag. Alice Schwarzer soll den Finanzvorstand übernehmen. Der Mann, der das findet, ist nicht gewillt, locker zu lassen. „Oder gibt es irgendwelche physischen Voraussetzungen für den Job, die Frau Schwarzer nicht mitbringt?“ Nein, gibt es nicht, sagt mit der Engelsgeduld eines Psychotherapeuten der scheidende Herr Hippe. Dass eine Frau auf seinen Sessel gelobt wird, ist natürlich trotzdem sehr unwahrscheinlich. Aber das sagt der Herr Hippe nicht.

17:39 Uhr. Endlich wird abgestimmt, ich habe vergessen worüber, kreuze sicherheitshalber überall Ja an. Wenn sie mich nur endlich hier raus lassen.

17:49 Uhr. Luft. Kälte. Bochumer Boden unter den Füßen. Selten so darüber gefreut. Nebenan schimmert, das sehe ich jetzt erst, der silberne Bau von Starlight Express – das Rollschuhmusical, das sie vor 23 Jahren hierher gelockt haben, damals fanden wir die Subventionen vergeudet, scheiß Musicalkacke, wollen wir nicht, wird eh ein Flop. Dass es mal zu einer wirtschaftlichen und architektonischen Konstante im Bochumer Straßenbild werden würde, hätte ich mir in meinem jugendlichen Hochmut auch nicht träumen lassen. Auch nicht, dass der Anblick mich plötzlich sentimental werden lässt. Gott, wie dringend ich hier vor zwanzig Jahren wegwollte. Und wie gut es sich jetzt anfühlt, dass noch ein bisschen Heimat übrig ist. Morgen fang ich an, mich mit ihr zu beschäftigen. Aaglückauf.

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