ICH WAR EINMAL… EIN DATENTRÄGER

Identität, Retusche, Lifelogging – wie die digitale Selbstarchivierung die persönliche Erinnerung beeinflusst. TAGESSPIEGEL und ZEIT ONLINE. 27. Dezember 2010.

Das Netz vergisst nichts, heißt es immer so schön drohend, aber das ist natürlich grober Unsinn. Wenn überhaupt, dann merkt sich das Netz das Falsche und vergisst das Wichtige. Die vorletzten Aushilfsjobs: sind immer noch da. Die aufwühlende private Korrespondenz dagegen, geführt im Sommer 1999, bleibt verschollen im T-Online-Nirwana. Dabei hätte man doch so gerne nochmal darin gestöbert…

Die Antwort auf solche ungewollten biografischen Lücken gibt es schon lange, sie heißt Lifelogging und meint die maximale private Vorratsdatenspeicherung. Als Erfinder dieser Vision gilt der amerikanische Ingenieur Vannevar Bush, der 1945 eine Lebensdatensammelmaschine, genannt Memex, entwarf. Ihm folgten in den Neunziger und Nuller Jahren etliche Männer mit komischen Geräten um den Hals, der Bekannteste ist Gordon Bell, der seit 2001 MyLifeBits testet, ein Totalerinnerungssystem aus dem Hause Microsoft. 2009 ist das Buch zum Projekt erschienen: Total Recall. How the E-Memory Revolution will change everything.

Tatsächlich ist der Anspruch der Lifelogger-Avantgarde so einfach wie irrwitzig: Alles soll mitgeschnitten werden, nichts darf verloren gehen. Angefangen von den äußerlich sichtbaren Aktivitäten, Begegnungen, Gesprächen, Mahlzeiten über das gesamte Mediennutzungsverhalten bis hin zu Standort- und Bewegungsprotokollen, Puls, Körpertemperatur usw. Der perfekt verkabelte Chronist wüsste: Als ich vor 489 Tagen mit Freund A an Kreuzung B stand, sprach ich von C. Und mein Herz schlug höher.

Trotzdem: Von dem bevorstehenden Marktdurchbruch einer Selbstüberwachungssoftware kann keine Rede sein. „Lifelogging kommt“, prognostiziert zwar auch Stefan Selke, Professor für Mediensoziologe an der Hochschule Furtwangen, „aber eher in einer weichen, individuellen Variante.“ In dem gerade erschienenen Sammelband „Postmediale Wirklichkeiten aus interdisziplinärer Perspektive“ (Heise Verlag) untersucht Selke dieses „partielle Lifelogging“. Denn die persönlichen Lebenspuren auf den Servern nehmen auch ohne Memex-Maschine ständig zu. Das fängt mit der ausufernden privaten Urlaubs- und Familienfotografie an, reicht über Filme und Texte und endet bei E-Mail-Accounts und Sozialen Netzwerken.

Der Wunsch nach Unvergänglichkeit ist natürlich nicht neu, nur kann er heute in ganz anderen Dimensionen ausgelebt werden. Nicht nur Google Mail ermuntert zum Beispiel seine Nutzer ausdrücklich, alle E-Mails für immer aufzubewahren. Auch bei Facebook können seit einigen Wochen die Inhalte des eigenen Profils samt Postings von Freunden und Kommentaren von Freundesfreunden als zip-Datei heruntergeladen werden. Interaktionsschnappschüsse, festgehalten für die Ewigkeit.

Warum auch nicht, Speicherkapazität ist erstens billig und zweitens ausreichend vorhanden. An Platzmangel muss heute keine ambitionierte Ich-Dokumentation mehr scheitern. Auch nicht an fehlender Technik. Das schafft der treue Begleiter Smartphone mittlerweile fast im Alleingang. Das Ding in der Hosentasche kann aufzeichnen, wegpacken und bei Bedarf wieder hervorholen.

Genau hier aber liegt das Problem. Denn die Herausforderungen des Datensammelns stecken weniger im Speichervorgang selbst, als vielmehr in der richtigen Archivierung. Nach welchen Kriterien soll der täglich größer werdende Heuhaufen sortiert werden – nach Jahren, Orten, Personen, Tätigkeiten? Und wer übernimmt diese mühsame Arbeit?

Der bekannte amerikanische Computerwissenschaftler David Gelernter hat dazu schon vor etlichen Jahren eine Theorie entwickelt, die er seitdem in zahlreichen Texten und Interviews propagiert: Alle persönlichen Daten sollten zukünftig entlang eines Lifestreams angeordnet werden: „Alle unsere Mitteilungen, Dokumente, Fotos, Videos […] werden ein Lebensstrom in der Wolke sein; ein Strom, den man einschalten kann wie einen Fernseher oder Computer.“ Die Zukunft ist ein Band, an dem Erledigungen aufgefädelt werden. Die Vergangenheit fungiert als Echtzeit-Ablage. Und im Jetzt sitzt das Ich vor einem Bildschirm und hangelt sich an seiner Zeitachse entlang. In solch einem digitalisierten Lebensstrom, so Gelernter weiter, wären natürlich auch Stichwortsuchen möglich. Warte, ich google mal kurz meine Leben durch. Außerdem könnte man den Lifestream jederzeit zurückspulen und „die Vergangenheit noch einmal betrachten.“

Welche Auswirkungen aber hätte ein solches Archivierungskonzept auf die biologische Erinnerungsleistung, auf die Spuren und Eindrücke im eigenen Kopf? Werden sie wertlos, unnötig, zweitrangig? Wird sich der Computer am Ende zum selbsternannten Erzähler unserer Lebensgeschichten machen? So wie früher die Mutter, wenn sie die Fotos fürs Familienalben ausgewählt, eingeklebt und mit ihren Kommentaren versehen hat…

Gelernter bleibt die Antwort auf solche Fragen schuldig, wie viele andere Lifelogging-Theoretiker auch. Stefan Selkes Forschung setzt dagegen genau hier an. Denn was nützt der eindrucksvollste Datenstrom, wenn er seinen Betrachter langfristig nur in Verwirrung stürzt? Ein digitales Lebensarchiv sollte auf seinen Besitzer stabilisierend wirken, meint Selke, und es sollte „den glaubhaften Eindruck eines sinnvoll gelebten Lebens“ vermitteln. Nur wie?

„Gesucht wird ein Story-Telling-Konzept“, sagt der Soziologe. Gemeint ist eine Software, die das digitale Archiv ähnlich clustern, arrangieren und formen könnte, wie es das Gehirn auch tut. Denn die menschliche Erinnerung funktioniert eben nicht wie ein Fernsehprogramm, sie wird im Kopf nicht ‚hochgeladen‘ und ‚abgespielt‘. Im Gegenteil: Sie blendet aus oder hebt hervor. Ereignisse werden ausgeschmückt, gedeutet und instrumentalisiert – um es im Jargon der Narrativen Psychologie zu sagen. Anders als durch diesen Akt der Selbsterzählung kann keine Identität entstehen, auch kein gnädiges Vergessen oder heilsames Überwinden stattfinden.

Selbstgestrickte Ich-war-einmal-Geschichten können im Laufe des Lebens immer wieder angepasst werden. Die analoge Fotografie hat diese Art der Erinnerung unterstützt. Die überschaubaren Fotoalben wurden zu verlässlichen Pfeilern der Rückbesinnung, zu Beweisen für die eigene Version der Lebensgeschichte. Aufkeimende Widersprüche konnte das löchrige Gedächtnis notfalls tilgen.

Die Generation der Digital Natives wird es da in den kommenden Jahrzenten schwerer haben, meint Selke. „Die Frage wird sein: Passen sich die zahlreichen gesammelten Daten widerspruchslos in meine biografische Narration ein – oder wirken sie kontraproduktiv?“ Im besten Falle könnten solche Archive die subjektive Erinnerung stimulieren, im schlimmsten Fall aber auch jegliche Form der wohlwollenden Retrospektive untergraben: Ach, das war damals im Sommer 2010 gar nicht Liebe auf den ersten Blick? Und geheiratet haben wir dann auch nur wegen der Steuer? Nein, das kann nicht sein. Das lösch‘ ich raus.

Wo viele Fakten sind, da ist erfahrungsgemäß auch viel Retuschierungsbedarf. Private  Geschichtsklitterung – neben dem Lifelogging wird vermutlich auch sie ein Teil des digitalen Erinnerungsmarktes werden. Erste Plattformen in diesem Dienstleistungssektor gibt es bereits. So hat kürzlich der Ex-Focus-Chefredakteur Helmut Markwort die Website stayalive.com vorgestellt, das klingt nach Bee Gees, meint aber ein „Portal für digitale Unsterblichkeit“. Auf dem kostenpflichtigen Online-Friedhof darf man sich schon zu Lebzeiten auf den Sockel heben, außerdem besteht die Möglichkeit ein Daten-Testament zu hinterlegen. Darin sollten sich nicht nur alle wichtigen Passwörter von Facebook bis Xing befinden, sondern am besten auch genaue Anweisungen, was mit der digitalen Erbmasse passieren soll. Ab auf den Memorystick für die Kinder und Kindeskinder? Oder doch lieber hier und da ein bisschen was rauszensieren aus dem sumpfigen Lebensstrom?

Vielleicht erledigt sich die Frage aber auch von selbst. Entweder weil ein Großteil der Dateiformate schon lange unlesbar geworden ist – oder weil gar keiner da ist, der sich für den geerbten Datenhaufen interessiert.

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