DAS DING IM KOPF

Traurig, komisch: „Arbeit und Struktur“, das Blog des schwerkranken Autors Wolfgang Herrndorf. TAGESSPIEGEL und ZEIT ONLINE. 10. Dezember 2010.

Im Juli dieses Jahres hat Christoph Schlingensief eines seiner letzten Interviews gegeben. Es ging, wie meistens, um seine Krankheit. „Wenn mich noch einer umarmt“, sagte Schlingensief im Männermagazin GQ, „und mir zuflüstert, wie sehr ihn das berührt, dass ich mit meinem Krebs das alles auf mich nehme, dann hau ich ihm eine rein. Es ist so, als ob man einen Flugzeugabsturz beobachtet. Dann sind alle ganz furchtbar berührt, weil sie nicht dringesessen haben.“ Im Unterschied zum Publikum sitze er aber drin, in dem abstürzenden Flugzeug.

Schlingensief hat in letzten zwei Jahren viel Häme über sich ergehen lassen müssen. Das Hausieren gehen mit den eigenen Röntgenbildern, lästig und eitel sei das, und überhaupt, gibt es jetzt hier nur noch Krebstheater und Krebsliteratur? Was für ein gehässiges Missverständnis. Denn wenn es eine Antwort auf Sterblichkeit gibt, dann doch die: maximale künstlerische Selbstermächtigung – auch und gerade im Augenblick größter physischer Hilfslosigkeit. Worte finden für die Katastrophe.

„Im Krankenhaus wird ein CT gemacht, und ich liege im Bett, als Dr. S. kommt und mir das CT zeigt und von einer ‚Raumforderung‘ spricht. Ich frage, ob wir das Wort nicht besser durch Tumor ersetzen wollen, aber er bleibt, wie auch die anderen Ärzte in den folgenden Tagen und Krankenhäusern, lieber bei Raumforderung. Ich strecke meine Hand wortlos nach hinten, er ergreift sie und drückt sie einige Sekunden.“ – Die Sätze stammen von Wolfgang Herrndorf, 45, Berliner Autor und Illustrator. In den letzten Jahren hat er einen Roman und einen Erzählband veröffentlicht: „In Plüschgewittern“ (2002) und „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“ (2007), er hat 2004 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb den Publikumspreis gewonnen und 2008 den Deutschen Erzählerpreis. Im Februar 2010 wird bei Herrndorf ein bösartiger Gehirntumor diagnostiziert, Heilung ausgeschlossen. Im März fängt er an, Tagebuch zu führen: „Ich werde noch ein Buch schreiben, sage ich mir, egal wie lange ich noch habe, wenn ich noch einen Monat habe, schreibe ich eben jeden Tag ein Kapitel. Wenn ich drei Monate habe, wird es ordentlich durchgearbeitet, ein Jahr ist purer Luxus.“

Die drei Monate sind lange vorbei, das Buch eines der erfolgreichsten und hochgelobtesten Neuerscheinungen des Herbstes: „Tschick“.  Die Heiterkeit des Romans wird von den privaten Notizen wie von einem schwarzen Passepartout eingerahmt. Während „Tschik“ entsteht, durchläuft Herrndorf Bestrahlung und Chemotherapie, hat einen manischen Zusammenbruch, wird in die Psychiatrie eingeliefert. Alles hält er schreibend fest. Und er entschließt sich schließlich zur Veröffentlichung. Seit Ende September sind die Aufzeichnungen unter www.wolfgang-herrndorf.de im Netz.

Natürlich bleibt beim Lesen der Flugzeugeffekt nicht aus: Man sitzt mit auf der Bettkante, wenn die Freunde zu Besuch kommen, man kauert mit ihm weinend am Spreeufer, betrachtet gemeinsam den Sternenhimmel über der Bergstraße. Man schaut ihm über die Schulter, wenn er nach Medikamenten und Überlebensstatistiken googelt. Wenn er beim Fahrradflicken an den Sohn denkt, den er vermutlich nie haben wird. Und ja, man ist unendlich gerührt, ergriffen. Aber auch ein bisschen verunsichert. Ist das noch Empathie – oder doch schon wieder voyeuristische Authentizitätssucht? Und: Darf man einem fremden Kranken so nahe kommen?

Zum Glück gibt Herrndorf die Antwort selbst. Einerseits durch seinen lakonischen Humor. „Liste von Dingen, die besser geworden sind: Nie wieder Steuererklärung, nie wieder Rentenversicherung, nie wieder Zahnarzt.“ Dieser reduzierte Ton, den man aus seinen Büchern kennt, hebelt jeden Anflug von süßlichem Mitleid schnell wieder aus: „Passig steht irgendwann mit der Hüfte an einen Tisch gelehnt und hinterlässt einen Brief, in dem steht, dass bei der Hässlichkeit meiner Bettwäsche Krebs die notwendige Folge sei.“

Andererseits hat das Ding im Kopf dem Autor nichts von seinem scharfen Blick genommen. Herrndorf schont sich selbst nicht, aber auch sonst niemanden. Er liest wie am Fließband, Klassiker, Kollegen, Konkurrenten, und seziert gnadenlos. Er hat wenig Geduld mit mittelmäßigen Kinofilmen, kann sich aber immer noch über herablassende Videotheksmitarbeiter freuen. Trotzdem mündet das nie in Zynismus, Herrndorf versteckt sich nicht hinter seinen Pointen. Die Stimmung kippt, eigentlich ununterbrochen. Wut, Glück, Angst, Irrsinn, alles innerhalb von fünf, sechs Sätzen. Aber selbst das erscheint dem auktorialen Ich-Beobachter nicht mal sonderlich originell: „Sowohl im Nachhinein als auch insbesondere währenddessen sehr bedrückender Gedanke: Dass man als Individuum auf diese Belastung nicht individuell reagiert, sondern superkonventionell, mit geradezu normiertem verrücktem Verhalten, das hunderttausend andere Verrückte an dieser Stelle auch schon vorgeführt haben, und also gar kein Individuum, keine psychisch autonome Einheit mehr ist.“

Mittlerweile arbeitet Wolfgang Herrndorf am nächsten Roman, aber sein Blog füllt er immer noch. Nicht täglich, aber regelmäßig. Für den Leser ist das, bei aller Dramatik des Beschriebenen, ein halbwegs beruhigender Vorgang. Solange neue Texte dazukommen, geht es ihm wohl gut. Trotzdem wünscht man sich das Tagebuch unbedingt auch zwischen zwei Buchdeckeln, haptisch und leibhaftig sozusagen. Denn dann könnte man endlich das machen, was man mit solchen literarischen Schätzen immer machen möchte: Eselsohren in die Ecken knicken, Ausrufezeichen in die Randspalten und ganze Absätze fett unterstreichen. So wie diesen hier: „Was jetzt zurückkehrt beim Lesen, ist das Gefühl, das ich zuletzt in der Kindheit und Pubertät regelmäßig […] hatte: dass man teilhat an einem Dasein und an Menschen und am Bewusstsein von Menschen, an etwas, worüber man sonst im Leben etwas zu erfahren nicht viel Gelegenheit hat, […] und dass es einen Unterschied gibt zwischen Kunst und Scheiße. Einen Unterschied zwischen dem existenziellen Trost einer großen Erzählung und dem Müll, von dem ich zuletzt eindeutig zuviel gelesen habe…“

Genau das ist es, was auch in Herrndorfs Texten immer mitschwingt: existenzieller Trost. Wo eigentlich kein Trost ist. Alles Gute.

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