DAS PROBLEM MIT DER HIMBEERE

Eine große Mission, tausend kleine Zankereien: Das weltweite Online-Lexikon Wikipedia ist ein wissenschaftliches Experiment – und ein zwischenmenschliches. Ein Gespräch mit Sebastian Moleski. DAS MAGAZIN. Oktober 2010.

Herr Moleski, der Brockhaus ist eingestellt, die Encyclopaedia Britannica kämpft ums Überleben. Freuen Sie sich über das Scheitern der Konkurrenz?

Einerseits ist es natürlich ganz toll, wenn man die Konkurrenz hinter sich gelassen hat. Aber das birgt auch die Gefahr, dass man sich daran gewöhnt, dass es so ist. Klar, wir haben es geschafft: Wir sind die bestbekannteste, meistgenutzte Enzyklopädie, die es gibt. Aber damit dürfen wir uns nicht zufrieden geben. Unsere Mission ist noch lange nicht erfüllt.

Welche Mission? Die einen stellen es ins Netz, die anderen kopieren es und fertig ist die Wissensgesellschaft?

Das Motto „Freies Wissen“ der Wikipedia bedeutet, dass wir jedem Menschen Zugang zum gesammelten Wissen der Menschheit ermöglichen wollen. Wikipedia soll dazu ein Einstieg sein, um dann über Links oder Literaturhinweise an weitere Informationen herankommen.  Das ist unser Ziel.

Aber was, wenn schon die Einstiegsinfos falsch sind? Es gab ja immer mal wieder Skandale um falsche Vornamen oder Todesdaten…

Im Mai 2008 haben wir deshalb ein System eingeführt, das „gesichtete Versionen“ heißt. Wenn jemand, der nicht angemeldet ist, einen Artikel bearbeitet, dann wird die Änderungen nicht gleich freigeschaltet, sondern erst, wenn ein angemeldeter ‚Sichter‘ sie bestätigt hat.

Was sind das eigentlich für Leute, die in der Wikipedia die Fehler korrigieren – lauter Studienräte a.D.?

Für viele ist Wikipedia ein Hobby. Das heißt, sie bearbeiten nicht Themen aus der eigenen Fachrichtung, sind also vielleicht keine Biologen, redigieren aber in ihrer Freizeit biologische Artikel. Außerdem sind die Wikipedianer in Deutschland sehr gesellig. Die treffen sich in vielen Städten zu Stammtischen.

Viele sind es ja nicht mehr, die aktiv mitmachen.

Knapp tausend Menschen arbeiten regelmäßig bei der deutschsprachigen Wikipedia mit. Wir definieren das so, dass ein sehr aktiver Wikipedianer mindestens 100 Bearbeitungen im Monat macht. Was wir aber auch sehen: Es gibt wenige, die sehr viel machen. Die schaffen hunderte Bearbeitungen pro Tag.

Wie das – sind das alles Universalgenies?

Zum größten Teil sind das Menschen, die sich um Vandalismus kümmern. Überhaupt gibt es verschiedene Nutzertypen. Manche sehen ihren Schwerpunkt darin, Schaden vom Artikelbestand abzuwehren. Dann gibt es welche, die lange Artikel schreiben. Wieder andere verbessern überall ein bisschen oder geben Tipps.

Und was ist jetzt mit den Lehrern?

Lehrer im Ruhestand haben wir fast gar nicht. Generell fehlt uns die ältere Generation. Dabei könnten Menschen, die viel Berufserfahrung haben, noch viel beitragen.

Sie haben auch in einer anderen Bevölkerungsgruppe ein massives Nachwuchsproblem: bei den Frauen.

Wir haben laut der letzten Statistik einen Männeranteil von 70 Prozent, ich glaube aber, dass er in Wirklichkeit noch höher liegt.

Außer dass es schlecht fürs Image ist, wie macht sich die niedrige Frauenquote bemerkbar?

Schwere Frage. Wenn wir irgendwo weltweit eine Wikipedia mit großem Frauenanteil hätten, könnte man das vielleicht vergleichen, aber wir haben keinen Vergleich. Denn quer durch alle Sprachversionen ist der Frauenanteil sehr, sehr gering. Und ich bin überzeugt davon, dass das Nachteile hat. Sowohl was die thematische Abdeckung angeht als auch bei der Qualität der Kommunikation.

Apropos: Die Wikipedia-Foren, auf denen die Autoren über die Artikel diskutieren, sind berüchtigt für ihren feindseligen Umgangston.

Das ist eines der schwierigsten Themen, die wir haben. Es gibt zwar Grundprinzipien, die sich die Nutzer selbst gegeben haben. Eins davon heißt: Keine persönlichen Angriffe. Wenn wir diskutieren, dann über Inhalte. Das funktioniert aber nur bedingt.

Ihre Kleinkriege führen die Autoren außerdem ziemlich öffentlich.

Stimmt. Es gibt die Artikelseiten, und es gibt, quasi als deren Rückseite, die öffentlichen Diskussionsseiten. Das sieht jeder. Es gab zwar immer die Hoffnung, dass diese Öffentlichkeit dafür sorgt, dass der Einzelne sich mehr benimmt. Nach vielen Jahren in der Wikipedia bin ich davon nicht mehr überzeugt. Eher spielt die Tatsache eine Rolle, dass man anonym ist und dass man das Gegenüber auf eine Schublade reduzieren kann. Zum Teil wird die Öffentlichkeit sogar noch benutzt, weil man sich von anderen bestätigt fühlt. Da gibt es so einen leichten DSDS-Effekt: Klar hassen mich alle, aber manche lieben mich auch dafür, dass die anderen mich hassen.

Klingt, als würde mehr Energie für die Selbstzerfleischung als für die lexikalische Arbeit drauf gehen.

Wir möchten gerne eine Enzyklopädie sein, die alles abdeckt, eine gute Referenz, und das weltweit, in vielen Sprachen. Wenn diese Idee daran scheitert, dass Menschen keinen Zugang zum Internet haben oder nicht lesen oder schreiben können, dann wäre das schon schlimm. Aber wenn wir scheitern, weil die internen Umgangsformen nicht gut genug sind, dann wäre das tragisch, geradezu fatal. Dazu ist das Thema Bildung viel zu wichtig. Wir würden ja auch nicht akzeptieren, dass das Schulwesen daran scheitert, dass Lehrer und Schüler nicht miteinander umgehen können.

Woran entzünden sich denn die Streitereien?

Ein großes, immer wiederkehrendes Thema ist die Neutralität. Nehmen wir an, wir haben einen Artikel über Himbeeren. Das ist ja erst mal ein überschaubares Thema: Beere, lecker, leicht sauer usw. Es gibt aber auch eine Himbeertherapie. Das ist, soweit ich das verstanden habe,  eine Methode um Leiden zu lindern. Die hat einen gewissen esoterischen Hauch und es ist umstritten, ob sie überhaupt funktioniert. Der Artikel „Himbeere“ in der Wikipedia ist zwei, drei Seiten lang, aber dazu gibt es eine Diskussion, die ist dutzende Seiten lange. Da geht es darum: Ist die Himbeertherapie anerkannt? Und was heißt überhaupt „anerkannt“? Wer definiert das? Die Kassenärzte, das Gesundheitsamt? Dann geht es um Zitate. Wenn jemand sagt: Die Therapie ist gut, ist dann der Mensch, der das sagt, wichtig genug, um in dem Artikel vorzukommen? Solche Diskussionen entstehen oft.

Kein Wunder, wenn es keine expliziten wissenschaftlichen Standards und Autoritäten gibt.

Unsere Standards haben sich ja in den letzten Jahren schon gefestigt. Wir haben festgelegt, was ein eindeutiger Beleg ist und was kein eindeutiger Beleg ist. Oder was Neutralität bedeutet. Das hat sich in sehr langwierigen Diskussionen über die Jahre herauskristallisiert.

Trotzdem, grundsätzlich gilt das Wort eines Professors genauso viel wie das eines Abiturienten.

Autorität entsteht durchaus, aber eher in einem organischen Prozess. Es gibt zum Beispiel exzellente Artikel, die wir als „Artikel des Tages“ auszeichnen – und die Autoren dieser Artikel sind auch sehr bekannt. Das hat natürlich Einfluss darauf, wie ernst ihre Argumente in anderen Diskussionen genommen werden. Darüber hinaus gibt es auch Themenbereiche, die informell strukturiert  sind. Es gibt zum Beispiel eine Gruppe, die sich um den Bereich „Lebewesen“ kümmert. Die helfen und bewerten sich gegenseitig. Und sie listen Artikel, die dringend Hilfe benötigen.

Wo klaffen denn generell noch die meisten Lücken?

Vor allem im geistes- und sozialwissenschaftlichen Bereich haben wir eine sehr starke Fixierung auf den deutschen Sprachraum. Das heißt, dass es zum Beispiel sehr viele Artikel zur deutschen Geschichte gibt. Das ist gut abgedeckt. Die Geschichte des Kongo ist es nicht. Die chinesische ist auch schwach. Sie ist da, sie wächst, aber nicht in dem Maße wie die deutsche. Dasselbe gilt für geografische Informationen. Es gibt keine Gemeinde in Deutschland, die keinen Artikel hat. Aber es gibt etliche Großstädte in China, die keinen Eintrag haben.

Wenn ich also zufällig Expertin für altarabische Musik bin, könnte ich mich bei Ihnen noch richtig austoben?

Bestimmt. Der beste Weg ist immer, eine bestehende Lücke zu füllen. Wenn der Name einer Epoche oder eines Künstlers schon mal in einem Artikel auftaucht, aber keinen weiterführenden Link hat. Das erkennt man daran, dass der Text an dieser Stelle rot ist. Da könnte ich dann drauf klicken und meinen Text einfügen.

Wie viele neue Artikel werden denn täglich geschrieben?

Zurzeit kommen jeden Tag mehrere hundert neue Artikel dazu, ungefähr 400 davon bleiben auch. Der Rest wird wieder gelöscht.

Wieso das?

Es gibt diesen hehren Anspruch der Relevanz. Wir versuchen, das unabhängig vom Ort definieren. In Deutschland haben wir uns zum Beispiel darauf geeinigt, dass ein Bürgermeister dann relevant ist, wenn er einer Gemeinde mit mindestens 100.000 Bürgern vorsteht. Wenn die Gemeinde kleiner ist, wird der Eintrag des Bürgermeisters wieder gelöscht. Andererseits ist es schwierig, solche pauschalen Kriterien global zu definieren. Wenn wir festlegen würden: Ein Autor ist erst ab drei Buchveröffentlichungen relevant, was ist dann mit Ländern, die keine durchorganisierte Verlagsstruktur haben? Oder wo es Zensur gibt? Sind ausländische Autoren, die aus solchen Gründen nicht publizieren können, deshalb weniger relevant?

Und das wird auch wieder alles endlos ausdiskutiert?

Ja. Das ist auch wichtig. Und wir werden trotzdem keine Rezepte und Regeln finden, die überall für alle gelten.

Zum Schluss: Haben Sie selbst eigentlich einen Wikipedia-Eintrag? Womöglich sogar einen selbstgeschriebenen?

Nein, ich habe keinen Eintrag. Erstens weil ich nach Wikipedia-Kriterien gar nicht relevant genug bin. Und zweitens würde ich einen biografischen Eintrag nie selbst schreiben. Da wird man von der

Community sofort zerpflückt. Meistens übrigens auch zu Recht.

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