„GEHT HIN UND ÜBERNEHMT DEN LADEN!“

Die Studentin Leena Simon hat eine Mission. Sie will dem Internet zu einer Frauenbewegung verhelfen. ZITTY. 1. Juli 2010.

Es ist früher Abend in Neukölln, Leena Simon hat den ganzen Nachmittag versucht, „das Internet zu reparieren“, gemeint ist ihr DSL-Anschluss. Jetzt sitzt sie im Biergarten, neben ihr ein silberner Roller, vor ihr ein weißes Laptop. Darauf klebt das Logo der Free Software Foundation Europe und der Aufkleber „Geek Girl“ – netz-affines Computer-Mädchen.

Geek Girl ist die blondgelockte Frau schon lange, den ersten Rechner hat sie sich vom Konfirmationsgeld gekauft. Zur öffentlichen Figur wurde sie vor vier Monaten eher zufällig,  wegen einer kleinen Mailinggruppe. Leena Simon, 25, Studentin der Philosophie, Politologie und Linguistik und seit Frühling 2009 Mitglied der Piratenpartei, wollte sie initiieren. Weil sich Frauen in der männerlastigen Netz-Partei, Zitat aus der damaligen Erklärung, möglicherweise „diskriminiert fühlen“ könnten. Nötig sei deshalb ein „Kommunikationsraum“, in dem sich die Piratinnen geschützt und frei austauschen könnten.

Das klingt eigentlich nach gutgemeintem Vernetzungsversuch – uferte aber aus zur ersten größeren Imagekrise der Newcomer-Partei. Denn von weiblichen Sonderwünschen hielt die Mehrzahl der Piraten wenig. Über Leena Simon und ihre Mitstreiterinnen brach binnen Tagen eine Flut wüster Beschimpfungen herein. Tenor: „Fangt jetzt nicht auch noch mit dem Genderscheiß an.“

Zitty: Frau Simon, gibt es im Internet Genderscheiß?

LS: Das würde ich so nicht sagen. Aber ich beobachte häufig, dass Männer sehr interessiert sind, dass sie im Netz alles ausprobieren. Die meisten Frauen dagegen wollen das Internet zwar auch nutzen, aber sie stehen eher auf dem Standpunkt: Es soll funktionieren, aber ich will nicht darüber nachdenken.

Zitty: Das ist doch eine legitime Position. Und hält einen grundsätzlich nicht von der inhaltlichen Partizipation ab, oder?

LS: Jein. Ein Stück weit muss man auch die technische Seite überblicken, zum Beispiel bei Wikis. Und wenn ich mich dafür technisch interessiere, dann habe ich natürlich auch eine größere Motivation selbst beizutragen. Dazu kommen die Nachwirkungen der 90er Jahre. Da war das Internet neu und unbekannt, und da hinein wagten sich erst mal mehr Männer. Selbst Ebay war lange Papa-Sache.

Zitty: Aber das betrifft doch die heutigen Jugendlichen nicht mehr.

LS: Bis heute kann man beobachten, dass Mädchen, die einen Bruder haben, sich häufig mehr auskennen mit Computern. Und auch an Schulen und in den Familien werden Unterschiede in der Medienerziehung gemacht, wenn auch oft nur unbewusst. Dadurch spiegelt das Netz den Status Quo wider, aber es produziert keine neuen Verhältnisse.

Simons Eindruck deckt sich mit den Statistiken. Die Zahlen der ARD/ZDF-Onlinestudie 2009 belegen: Grundsätzlich sind in Deutschland weit mehr Männer online als Frauen (73% vs. 57%), außerdem unterscheidet sich die Mediennutzung der Geschlechter auch in ihrer Quantität: 122 Minuten täglich verbringen Frauen mit E-Mails und Internet, 148 Minuten die Männer. Und anders als die Forschung lange Zeit annahm, schließt sich dieser Graben nicht. Im Gegenteil.

Die jährliche Studie erhebt noch andere Daten, zum Beispiel, dass Frauen öfter in Sozialen Netzwerken unterwegs sind, Männer dagegen stärkeres Interesse an beruflichen Netzwerken, Blogs und Videoportalen haben. Auch beim „Interesse an der Möglichkeit, aktiv Beiträge zu verfassen“ unterscheiden sich die Vorlieben der Geschlechter: 34 Prozent aller männlichen Nutzer finden es „sehr“ oder „etwas interessant“ eigene Beiträge beizusteuern; bei den Frauen haben nur 27 Prozent Lust dazu. 52 Prozent aller Frauen wollen dagegen gar nichts posten oder kommentieren.

Leena Simon kennt die Haltung, auch aus dem engsten Freundinnenkreis. Der harsche Ton vieler Foren, aber auch die durchweg maskuline Anrede, so ihre These, lässt Frauen schnell kehrtmachen.

Zitty: Sind also mal wieder die bösen Männer schuld, dass Frauen außerhalb der Sozialen Netzwerke seltener das Wort ergreifen?

LS: Nein, natürlich nicht. Aber die Regeln des Internets werden von Männern geschrieben. Damit meine ich nicht, dass sich einer hinsetzt und was aufschreibt, aber es haben sich in den letzten Jahren bestimmte Strukturen entwickelt. Und das sind oft männlich gedachte Strukturen.

Zitty: Zum Beispiel?

LS: Ein schönes Beispiel war der Live-Stream der diesjährigen Blogger-Konferenz re:publica, wo neben der Übertragung des Podiums auch der Live-Chat zu sehen war. Diesen Chat konnte man als Netz-Zuschauer nicht ausschalten. Selbst als es dort zu übelsten sexistischen Trollattacken kam. Ich habe mir am Ende einen Zettel auf den Bildschirm gelegt, um das nicht mitlesen zu müssen.

Zitty: Sprich: Das hätte nicht so sein müssen, das hätte man – oder frau – anders programmieren können?

LS: Genau. Und an solchen Beispielen merkt man, dass einerseits Probleme auftauchen, die Frauen möglicherweise anders lösen würden, und sich andererseits Gepflogenheiten entwickeln, die Frauen eher abschrecken.

Zitty: Aber wer Kommentare löscht, erntet doch sofort den Vorwurf der Zensur.

LS Das ist in der Tat schwierig. Aber genau der Punkt, an dem wir ansetzen müssen: Die Grundstruktur, unter der die Kommentar-Kultur entstanden ist, berücksichtigt nicht, dass es Menschen gibt, die keinen Bock haben, sich das alles durchzulesen – und die das auch nicht auf die leichte Schulter nehmen. Wenn ich heute einen Blog betreibe, muss ich mich entscheiden: Ob ich auch die dümmsten Kommentare wenigstens einmal überfliege, oder ob ich Kommentare prinzipiell ausschließe.

Zitty: Was fehlt sind also auch alternative Software-Lösungen?

LS: Ja, und dafür bräuchte es wiederum mehr Frauen unter den Gestaltern. So werden immer die Strukturen, die die Männer produzieren, als Standard gesetzt. Das ist dann „normal“; das sind dann die Spielregeln für uns alle. Was wir jetzt haben, ist ein Androzentrismus 2.0.

Ob an der kollektiven weiblichen Zurückhaltung in vielen Bereichen der digitalen Öffentlichkeit tatsächlich ‚männliche‘ Strukturen schuld sind, ist zwar bislang unerforscht. Sichtbar ist der gender gap aber längst: Die Online-Enzyklopäde Wikipedia zum Beispiel hat in Deutschland rund 7.000 aktive Autoren, weniger als 10 Prozent davon sind weiblich. Ähnlich die Verhältnisse bei den politischen Bloggern, Frauen gibt es zwar, wahrgenommen werden sie kaum. In den Top 100 der deutschen Twitter-Charts: sieben Frauen. Dass in der Internet-Enquete der Bundesregierung auf 25 Experten 9 Expertinnen kommen, ist da fast schon eine gute Quote.

Weil die Piratenpartei das Phänomen trotzdem nicht auf ihre Agenda heben will, hat Leena Simon mittlerweile ihr eigenes Netzwerk gegründet: frauen*im.net. Das Gründungstreffen fand Anfang Juni in Hattingen statt, die Aktivistinnen wollen sich künftig allen Themen widmen, die mit weiblicher Repräsentation im Netz zu tun haben: Datenschutz, Cyberstalking, Genderforschung, Journalismus, Sprache und – Netzpolitik.

Zitty: Was hat denn Netzpolitik mit Netzfeminismus zu tun?

LS: Netzpolitik ist ein emanzipatorisches Thema! Und ich befürchte, dass die Enthaltung im Netz für die Frauenbewegung ein unglaublicher Rückschritt  ist. Die Netzgesellschaft wird immer wichtiger, übrigens genauso wie die Software. Ich ärgere mich sehr darüber, wenn Feministinnen dazu auffordern, dass Internet zu boykottieren, oder sagen, da geht’s ja nur um Pornos und das ist alles frauenfeindlich. Selbst wenn’s so wäre, dann geht doch hin und übernehmt den Laden. Gestaltet mit!

Zitty: Schöner Schlachtruf, aber ist das realistisch? Die ganz großen strukturellen Entscheidungen werden doch längst woanders getroffen – in den Hinterzimmern von Google, Facebook und Apple.

LS: Das Netz ist tatsächlich in Gefahr, von den großen Fischen dazu verwendet zu werden, ihre Produkte zu verkaufen. Deshalb müssen wir diesen öffentlichen Raum verteidigen, gegen die Politik, die ihn einschränken will, und gegen die wirtschaftlichen Interessen. Die Freie-Software-Bewegung hat gezeigt, dass es möglich ist, als Zivilgesellschaft hier ein starkes Gegengewicht zu bilden. Das gilt auch für das Netz als Ganzes. Aber das schaffen wir nur, wenn alle mitmachen. Wenn wir uns aber schon vorher gegenseitig Beine stellen und die Hälfte der Bevölkerung ausladen, durch ein frauenfeindliches Klima, dann schaffen wir das nicht.

Im Biergarten in Neukölln sind zwei Stunden vergangen, Leena Simon hat viel und forsch geredet. „Kommt nach vorne, wenn ihr Eier habt“, hatte der Moderator beim diesjährigen Parteitag der Piratenpartei die Kandidaten aufgefordert, die für den stellvertretenden Vorsitz kandidieren wollten. Leena Simon ist auf die Bühne gegangen, als einzige Frau. Was folgte, war ein halbstündiges Kreuzverhör, das sie selbstbewusst und souverän durchgestanden hat.

In den Parteivorsitz ist sie trotzdem nicht gewählt worden. Aber an ihren Eiern zweifelt seitdem niemand mehr.

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