GENERATION COPY & PASTE

Im Schulalltag hat das Netz längst einen festen Platz: Hausaufgabenrecherche fängt bei Google an – und hört bei Wikipedia auf. Einen einheitlichen Umgang damit haben Berliner Schulen bislang nicht gefunden. WELT / BERLINER MORGENPOST. März 2010.

Hannah und Julia standen neulich vor einer schweren Aufgabe: Ein Referat über die „Geige“ hatte der Musiklehrer verordnet. Dass man Instrumente googlen kann, dass wussten die beiden Fünftklässlerinnen schon. Aber es kam noch besser. Gleich der erste Link führte zu Wikipedia. Und siehe da, da war ja ihr Referat. 14 Seiten lang zwar, aber fertig zum Vortragen.  „Das schreiben wir jetzt nur noch ab,“ erklärten die beiden ihren Eltern.

Unendliche Wissensweiten verheißt das Internet, das längst in jedem deutschen Kinderzimmer angekommen ist, Informationen in Hülle, Fülle und Sekundenschnelle. Im Schulalltag ist von dieser theoretischen Vielfalt wenig zu spüren. „Wikipedia ist der erste Zugriff, das ist uns bewusst,“ konstatiert Robert Prekel, Geschichts- und Französischlehrer am Romain-Rolland-Gymnasium in Reinickendorf. Und auch mit Suchmaschinen kennen sich die jungen Nutzer bestens aus: „Die finden alles.“ Viel weiter reichen die Kompetenzen allerdings nicht.

Methodisch müssen die Schüler, so beobachtet es der Pädagoge täglich, an die Hand genommen werden. Prekel hat sich daher angewöhnt, die Pfade vorab zu beschreiten, auf die er seine Schüler schickt. „Ich gebe Tipps, bei welchem Thema Wikipedia ausreichend ist und bei welchem nicht.“ Und: „Bestimmte Arbeitsaufträge gebe ich gleich mit einem Link an – und da bin ich nicht der einzige, das machen andere Kollegen auch.“

Denn wer keine klaren Anweisungen gibt, darüber ist sich ein Großteil der Lehrerschaft längst klar, der kriegt zusammen gegoogelte Texte ungewisser Herkunft. Oder ein Chemie-Referat über den „ph-Wert“, das eigentlich von Jenny2288 stammt. Vor sieben Jahren hat sie es gehalten und eine glatte Eins dafür bekommen. Seitdem verschenkt sie es großzügig auf hausaufgaben.de.

Natürlich ist die jetzige Schülergeneration ist nicht die erste, die bei Schulaufgaben den Weg des geringsten Widerstands zu gehen versucht.  Abgeschrieben wurde immer schon. Nur hat, findet der Dresdner Medienwissenschaftler Stefan Weber, das Internet dieses  Abschreiben fundamental verändert:  Die Beziehung zum Text ist „nicht mehr inhaltlicher, sondern ‚editorischer‘ Natur,“ schreibt er in seinem Buch „Das Google-Copy-Paste-Syndrom“. Wer nur noch mit Textbausteinen aus dem Netz jongliert, so Webers These, der liest flüchtig und erfasst Inhalte höchstens oberflächlich.

Robert Prekel kennt das Problem, sieht es aber halbwegs gelassen. „In ein Referat muss deshalb immer eine Fragestellung rein.“ Aber selbst wenn es um so spezielle Themen wie „Napoleons Spanienpolitik“ geht, sei Copy-Paste natürlich nie ganz auszuschließen. Textklau ist im Klassenzimmer aber relativ leicht zu entlarven: „Das merkt man, wenn auf einmal ein Schüler ganz anders formuliert als sonst. Oder wenn er auf Nachfragen nicht antworten kann.“ Gelegentlich haben Kollegen von ihm aber auch schon auffällige Wortketten gegoogelt. Und prompt die Quelle der jungendlichen Weisheit entdeckt.

Stefan Weber bewertet das Copy-Pasten von Hausaufgaben dennoch nicht nur als einen harmlosen Betrugsversuch. Denn trotz einzelner aufmerksamer Lehrer machten viele Schüler die Erfahrung, dass das Kopieren aus dem Netz grundsätzlich „erfolgsversprechender“ ist als eigene Schreibversuche. Und mit dieser Haltung landen sie irgendwann auch an den Universitäten.

Dabei sollte, so hat es vor fünf Jahren der ehrgeizige „eEdudation Masterplan“ des Berliner Senats festgeschrieben, am Ende der Schullaufbahn eigentlich ein technisch und methodisch hochversierter junger Mediennutzer stehen. 2005 sind die „IT-Kompetenzprofile“ für Berliner Schülern detailliert festgehalten worden – und damit juristisch bereits ein verbindlicher Bestandteil der Rahmenlehrpläne. Und auf dem Papier will man hoch hinaus: Schon in der Jahrgangsstufe 3 /4 sollten „digitale Informationsquellen mit Handschriften und gedruckten Medien“ verglichen werden;  Fünft- und Sechstklässler „analysieren Informationen  aus den Internet skeptisch auf ihren Wahrheitsgehalt“; Siebt- und Achtklässler „selektieren die ‚Wissensflut‘ zielorientiert.“ Und Oberstufenschüler „finden weltweit Informationen zu relevanten Themen und ordnen sie systematisch.“

Kritische Recherche, Analyse, Selektion? Robert Prekel beobachtet bei seinen Schülern eher eine tiefsitzende Textgläubigkeit: Was die Suchmaschine zu Tage fördert, woher auch immer, wird schon irgendwie stimmen. Nicht mal das grundlegende Prinzip ihres Lieblingsnachschlagewerks kennen die jugendlichen Nutzer. „Den Schülern ist oft gar nicht bewusst, dass bei Wikipedia jeder was reinschreiben kann.“

Das Phänomen kennt man auch bei Wikipedia selbst. Der gemeinnützige Verein Wikimedia, der sich um die „Förderung freien Wissens“ vor allem bei der großen Schwester Wikipedia kümmert, weiß um die fundamentalen Wissenslücken bei den Schülern. „Und um unser schlechtes Image bei den Lehrern“, ergänzt Pressesprecherin Catrin Schoneville. Vor einem Jahr hat man sich daher zu einem ungewöhnlichen Projekt entschlossen: Wikimedia Deutschland bot Workshops für Schulklassen an, durchgeführt von einem erfahrenen Wikipedia-Autor. Pädagogisches Ziel: vor zu vertrauensseligem Online-Lexikon-Konsum warnen.

„Wir haben den Schülern richtig schlechte Einträge gezeigt“, erzählt Schoneville, „und dann mit ihnen zusammen Richtlinien verfasst, wie ein guter Eintrag eigentlich aussehen muss.“  Vor allem aber, betont die Pressesprecherin, „wollten wir den Schülern verdeutlichen: Man nutzt nie nur eine Quelle.“ Und: „Wir wollen immer zum Weiterlesen anregen.“

Mit seinem Workshopangebot traf Wikimedia offenbar ein flächendeckendes Bedürfnis. Binnen weniger Monate wurden die Kurse von so vielen Berliner Schulen nachgefragt, dass der kleine Verein schon im Herbst 2009 vor dem Ansturm kapitulierte. „Wir können das personell einfach nicht leisten.“ Jetzt hat der Verein ein neues Konzept entwickelt: „Wir konzentrieren uns seit einigen Monaten auf die Weiterbildung von Lehrern und Medienberatern.“ Diese, so die Hoffnung, könnten ihre Wikipedia-Bedenken dann konstruktiv in den Unterricht einfließen lassen.

Robert Prekel macht das längst, nach eigenen Methoden: „Neulich in der 12. Klasse haben wir die Encyclopédie française aus der Aufklärung besprochen, die ja auch alles anderes als objektiv war. Und da tauchte die Frage auf: Was ist denn eigentlich das moderne Gegenstück?“ Schnell kamen die Schüler auf die Antwort.

Soweit sind Hannah und Julia noch nicht. Trotzdem hat auch ihnen der Musiklehrer kurzfristig einen Strich durch ihre Wiki-Copy-Paste-Rechnung gemacht: „Er will, dass wir noch was Persönliches zu unseren Instrumenten erzählen.“ Die jungen Referentinnen sehen Arbeit auf sich zukommen. Denn „was Persönliches“, soviel ist klar, kann man nicht aus dem Netz fischen.

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