PIPPI vs. PITTI

Die deutsche Teilung ist zwanzig Jahre her, die ersten Kinder der Wiedervereinigung haben selbst schon wieder Kinder. Trotzdem – in den Kinderzimmern sind längst nicht alle Unterschiede nivelliert. BERLINER MORGENPOST. Oktober 2009. 

An ihre erste Begegnung mit dem Kobold erinnert sich die 36-jährige Ines noch deutlich. Zur Geburt ihrer Tochter Anna, heute fünf, hatte eine Freundin ihn angeschleppt. „Was für ein hässliches Stofftier, habe ich damals gedacht.“ Stirnrunzelnd habe sie das Geschenk beiseite gelegt. Der frischgebackene Vater dagegen stieß Sekunden später einen Schrei der Begeisterung aus: „Pittiplatsch!“

Ines ist im Ruhrgebiet aufgewachsen, ihr Freund Christian stammt aus Brandenburg. Und die unterschiedliche Sozialisierung wirkt nach, besonders im Kinderzimmer. Mama schwört auf Lindgren und Nöstlinger, Papa will lieber Rodrian und Hacks vorlesen. Sie verdrückt Tränchen, wenn Lotta aus der Krachmacherstraße auszieht, er imitiert hingebungsvoll die todgeweihte Weihnachtsgans Auguste. Sie kann die Sams-Reime auswendig, er das Katzenhaus. „In Sachen Kinderliteratur prallen bei uns Welten aufeinander“, gibt Ines zu.

Christians Begeisterung für die Abrafaxe zum Beispiel: für Ines lange rätselhaft. Dabei waren die Nachfolger der Digedags in der DDR absolute Bestseller; 1989 lag die monatliche Auflage bei fast einer Millionen Hefte. Die Abos, heiß begehrt und chronisch knapp, wurden sogar weitervererbt. Heute ist die Auflage zwar auf knapp 100.000 Heften geschrumpft, aber stabil – dem großen Stammpublikum im Osten sei Dank. „Natürlich wird da innerfamiliär an Lesegewohnheiten und Sammelleidenschaften angeknüpft,“ berichtet Herausgeber Klaus D. Schleiter. „Aber“, fügt er schnell hinzu, „auch Leser im Westen haben Mosaik mittlerweile entdeckt.“

Das mag punktuell stimmen, ist aber immer noch die Ausnahme. Im Osten Deutschlands kennt längst fast jeder Bibi Blocksberg, hört Rolf Zukowski, liest Astrid Lindgren. Wer dagegen in Westdeutschland, weit weg von Berlin und seinen durchmischten Bezirken, eine Familie gründet, kommt mit Ostklassikern kaum in Berührung – weder im Freundeskreis, noch in der Stadtbücherei, und schon gar nicht im Kindergarten. Hier stehen keine Bilderbücher von Ingeborg Meyer-Rey im Regal und im Stuhlkreis wird nicht „Weil heute dein Geburtstag ist“ angestimmt.

Grund für die fehlende Annäherung ist nicht nur die tief verwurzelte ideologische Skepsis des Westens, sondern vor allem das jahrzehntelange Ungleichgewicht bei der gegenseitigen Wahrnehmung. Während man im Osten immer aufmerksam gen Westen äugte, war das Interesse der westdeutschen Jugend an Produkten, auch Kulturprodukten, der DDR gering. „Bei uns wurden Bravo und Mickey Maus Hefte wie Schätze gehütet und weitergereicht“, erinnert sich Illustrator Volker Schlecht, der in Radeberg aufgewachsen ist. „Überhaupt gab eine starke Neugier auf den Westen, bei vielen gepaart mit unerfüllten Sehnsüchten und natürlich Verklärung.“

Umgekehrt fiel das Interesse deutlich geringer aus. Ines hatte als Kind nie eine Bummi- oder Frösi-Zeitschrift in der Hand, hat „natürlich nicht“ Gerhard Schöne oder Reinhard Lakomy gehört. „DDR war einfach nicht präsent.“

Und dabei ist es oft geblieben. „Besonders ärgert mich, dass man hier in den Buchhandlungen vergeblich nach Büchern aus dem Kinderbuchverlag sucht“, beklagt die Buchhändlerin Franziska Löber. Erst kürzlich ist die 32-Jährige mit ihren drei Kindern von Chemnitz nach Karlsruhe umgezogen. Hirsch Heinrich oder das Wolkenschaf sind ihr in der neuen Heimat noch nicht über den Weg gelaufen.

Dabei ist alles noch erhältlich, vieles sogar neu verlegt. Gerade erst hat der Kinderbuchverlag, der mittlerweile zu Beltz gehört, zum 60-jährigen Jubiläum einen Sammelband herausgebracht: „Erzähl mit vom kleinen Angsthasen. Die schönsten Kindergeschichten der DDR“. „Ein grandioses Buch,“ meint Fransziska Löber, „das mir aber auch verdeutlicht hat, wie schade das ist, dass diese Autoren und Illustratoren hier im Westen alle ignoriert werden.“

Ganz so drastisch würde es Doreen Zippel, Pressesprecherin bei Beltz, nicht ausdrücken. Dennoch muss auch sie zugeben: „Rezensionen zum Sammelband gab es hauptsächlich in den ostdeutschen Medien“. Und die 100.000 Exemplare, die vom „Kleinen Angsthasen“ seit Februar verkauft wurden, gingen zum allergrößten Teil nach Ostdeutschland. Der Erfolg, wenn auch nur in der einen Hälfte des Landes, beflügelt. Schon plant der Verlag die nächsten Sammelbände und Jubiläumsausgaben für sein großes Nischenpublikum.

Ihre liebsten Kinderbücher entbehren Osteltern also nicht, nur einen Großteil ihre liebsten Fernsehformate. Nach der Wende sind nicht nur Professor Flimmrich, Meister Nadelöhr und Puppendoktor Pille in der Versenkung verschwunden, sondern mit ihnen auch Spuk unterm Riesenrad, Arthur, der Engel, Hase und Wolf, Alarm im Kasperletheater usw. Allein der Ostsandmann durfte 1991 zur gesamtdeutschen Ikone werden. Allen anderen Erfolgsserien aus den sozialistischen Bruderstaaten konnten sich im Westfernsehen nicht durchsetzen.

Statt dessen wird der Sandmann im Vorabendprogramm immer noch von japanischen 70er-Jahre-West-Trickfilmen eingerahmt. Regelmäßig zeigt der KI.KA Wickie und Heidi; noch immer fliegt Nils mit den Wildgänsen und Biene Maja mit Freund Willi. „Die alten Ostserien kommen leider gar nicht vor,“ bedauert Papa Christian.

Beim KI.KA kennt man diese Klagen. Programmplaner Stephan Rehberg erreichen viele Briefe von Eltern, aus allen Teilen des Landes. „Da wird oft nach alten Serien oder Filmen gefragt.“ Dass der Sender trotzdem selten auf die Anregungen eingeht, hat einen einfachen Grund: „Die nostalgischen Wünsche der Eltern“, so Rehberg, „decken sich einfach nicht mit den TV-Vorlieben der Kernzielgruppe.“ Bolek und Lolek zum Beispiel floppte 1998 und 2001. Und auch die Quoten der Augsburger Puppenkiste, die zuletzt 2008 lief, seien „so lala.“ Zum Trost verweist er auf den DVD-Markt. „Oder youtube, da kursiert auch alles“, ergänzt Christian, der Tochter Anna manchmal im Netz „Kleiner Maulwurf“ gucken lässt.

Auf KI.KA haben dagegen nur noch die osteuropäischen Märchenfilme ihren festen Sendeplatz. Denn die sind – auch Jahrzehnte nach ihrer Entstehung – immer noch verlässliche Quotenhits, hüben wie drüben. Bei „Drei Nüsse für Aschenbrödel“ sitzt die ganze Nation einmütig vor der Glotze.

Die grenzübergreifende Begeisterung hat durchaus historische Gründe. Denn die tschechischen Fernsehproduktionen, die um 1980 in Koproduktion mit dem WDR entstanden, bilden die einzige markante Schnittstelle deutsch-deutscher Kindheitserinnerung. „Pan Tau“, „Luzie, der Schrecken der Straße“, „Die Märchenbraut“ oder „Der fliegende Ferdinand“ wurden in beiden Teilen des Landes ausgestrahlt – und heiß geliebt.

Auf KI.KA werden die Serien dennoch nicht zurückkehren. Aber immerhin ist, nach komplizierter Rechteklärung, nun endlich eine DVD Edition „Tschechische Filmklassiker“ erschienen.

Auch Ines und Christian haben „Luzie, der Schrecken der Straße“ schon bestellt. Was Tochter Anna allerdings zu den Knetmännchen Friedrich und Friedrich sagen wird, ist noch unklar. Zum sechsten Geburtstag hat sie sich eigentlich etwas anderes gewünscht. Nichts von Pitti, nichts vom Pippi. Aber „alles von Lillifee“.

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